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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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der Versuch würde alles vernichten, was es jetzt als Gemeinsamkeitsrest noch gibt. Unsere Geschäftsfähigkeit, das ist spürbar auch Luzias Wunsch und Wille, soll unter den geschehenen Umwälzungen nicht leiden.
    Sie hat mir übrigens meine rote Fliege zurückgebracht. Die rote Fliege war mein Kostüm an diesem Abend. Luzia konnte mir das Corpus Delicti nicht in die Hand geben. Es lag auf meinem Schreibtisch in einer durchsichtigen Pralinenpackung. Die Vermählten lassen grüßen!, stand auf einer Karte. Das ist Luzia. Ihr ist immer nach einem Witz zumute. Als ich die Fliege, um sie nicht mehr sehen zu müssen, in die nächstbeste Schublade legte, wusste ich, dass dieser Silvesterball mein letzter gewesen ist. Wie lange ich diese Klinik noch leite, weiß ich nicht, dass aber von mir nicht mehr erwartet werden kann, an einem Silvesterball teilzunehmen, das weiß ich. Ich, auf einem Ball!
    Heute kommt mir das vor, wie wenn ein Nichtschwimmer sich zu einem Schwimmsportfest drängt. Verheiratet mit der Schwimmerin aller Schwimmerinnen ist ohnehin Dr. Bruderhofer.
    IN LIEBE . Eva Maria.

6.
    Jetzt die Handlung. Sollte es mir bis hierher gelungen sein, meine Situation verständlich zu machen, ergibt sich die Handlung von selbst. Es ist kein Einfall von mir, der zu dieser Handlung führte. Es war der Lauf der Dinge. Ich habe mich allerdings nicht gewehrt gegen das, was geschehen wollte. Ich habe mitgemacht. Ein Opportunist des Schicksals. Aber das ist in der größeren, der sogenannten Weltgeschichte nur zu bekannt. Alle weltgeschichtlich Handelnden haben es immer wieder mitgeteilt, dass es darauf ankomme zu handeln, wenn die Göttin Gelegenheit dazu einlädt, verführt, drängt.
    Also.
    Ich habe das Reliquiar gestohlen. So würde es ein weltlicher Richter nennen. Ich sage: Ich habe es in Sicherheit gebracht. Mein Vorfahr hat es vor der Gier des Staates gerettet. Ich habe es gerettet vor der herablassenden Verlogenheit der Gebildeten, seien sie geistlich oder weltlich. Dr. Bruderhofer darf bei den Ursachen meiner Handlung nicht fehlen. Seine Spione haben herausgefunden, dass ich ein Buch schreibe zur Verteidigung aller Reliquien. In der Ärzteversammlung hat er jetzt alle Ärzte aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Herrn Professor Feinleins Reliquienforschung – und zu Forschung hat er hinzugefügt: wenn Sie es so nennen wollen –, also dass diese Spezialität des Chefs, bitte, mit keiner Silbe über das PLK hinausdringen dürfe. Der Ruf der Klinik wäre hin, wenn ein Journalist davon erführe und in einer Zeitung darüber berichtete. Er forderte eine Art Schweigeschwur. Wie ernst es ihm damit sei, sollten die Kollegen und Kolleginnen daran sehen, dass nach dieser Mitteilung keinerlei Diskussion im Rahmen der Ärzteversammlung stattfinden dürfe. Dass in dieser Sache alle einer Meinung seien, sei wohl klar. Also keine Diskussion. Aber Schweigen. Und schloss: Hier sei das Scherblinger Schweigen am Platz. Und dann noch: Da es ja zu diesem grotesken Thema nur eine einzige Meinung geben könne, halte er es für überflüssig, den Chef von diesem Schweigeschwur in Kenntnis zu setzen. Mehr als Schweigen kann er wirklich nicht von uns erwarten. Von den neunundfünfzig Ärzten und Ärztinnen hat ein Arzt sich nicht an dieses Gebot gehalten: Dr. Häuptle. Er hat mir nicht nur diese Sitzung geschildert, er hat aufgezählt, wie oft Dr. Bruderhofer da und dort ausfällig bis höhnisch über meine Beschäftigung mit Reliquien herziehe. Dr. Häuptle behauptet, Dr. Bruderhofers unablässige Schmähsucht diesbezüglich verrate, dass sich Dr. Bruderhofer durch mich einer andauernden Reizung ausgesetzt sehe. Ein unaufhörliches Ärgernis sei diese meine Reliquien-Erforschung. Es störe sein Weltgefühl, seine Berufsehre, dass er arbeiten müsse unter einem Chef, an dem die europäische Aufklärung spurlos vorübergegangen sei. Dr. Bruderhofers aggressives Leiden unter der Feinlein’schen Missachtung der europäischen Verstandeskultur verrate paranoide Züge. So Dr. Häuptle.
    Eines ist sicher: Dass Dr. Bruderhofer Luzia Meyer-Horch mit dieser Tanznummer erobert hat, war kein Silvesterball-Einfall. Das war Plan. Und alles, was er jetzt weiß oder zu wissen glaubt, hat er von Luzia. Sie selber kennt, was ich arbeite, weil sie mir die Bücher beschafft, die ich brauche, und weil sie für mich schreibt. Aber nicht während der von der Klinik bezahlten Arbeitszeit, sondern abends und samstags und sonntags. Ich habe von ihr nie

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