Muttersohn
gewesen wie der Professor. Das Wunderbare: Der Professor hat sich Percys oft schwärmerische Sohnesliebe nicht nur gefallen lassen, er hat sogar mitgespielt.
Allerdings – eine schneidende Erinnerung – Mutter Fini hat verboten, mit dem Professor zum Notar zu gehen. Lass es mich nicht erklären müssen, lass es mich einfach verbieten. Hat sie geschrieben. Und geschlossen: Deine schwächer werdende Mutter Mutter Fini. Manchmal unterschrieb sie jetzt nur mit dem Vornamen. Den aber nicht als Josefine, sondern als Mutter Fini. Und sie hat noch nie zweimal gleich gegrüßt. Ihre Schluss-Grüße sind immer genaueste Auskunft über die Stimmung, in die sie sich in diesem Brief hineingeschrieben hat. Percy sagt sich nachts oft diese Schluss-Grüße vor, weil alle diese Grüße nur den Sinn haben, von ihm immer wieder wiederholt zu werden. Deine vom Stolz auf Dich geblendete Mutter Fini. Deine vor Armseligkeit nicht bis zu Dir reichende Mutter Fini. Deine Dich mordsmäßig streichelnde Mutter Fini. Deine die Welt von Dir überzeugende Mutter Fini. Deine von allen guten Geistern verlassene Politikerin Mutter Fini. Deine Dir zuliebe geschmacklose Mutter Fini. Deine Ersatzdienst leistende Mutter Fini. Deine nichtsnutzige Mutter Fini. Deine Mutter Fini, die Schmutzige. Deine wertfreie Mutter Fini. Deine leblose Mutter Fini. Deine von der Morgensonne beleuchtete Mutter Fini. Deine Mutter Fini im Abgrund.
Den adoptier’ ich! Percy meinte jetzt Müller-Sossima. Er hatte zu viel getrunken, das wusste er auch. Er prüfte den Anteil des Alkohols in seinem Einfall, zog den Alkoholanteil vom Einfall ab, es blieb übrig: Wenn seine Mutter tot ist, adoptier’ ich ihn. Diese Vorstellung legte sich wie eine warme Decke über ihn. Ewald Kainz blieb draußen. Ewald Kainz mit seinen Vorwürfen. Warum hast du das zugelassen, dass ich mich erhängte? Dich habe ich es wissen lassen. Warum …
Percy schmiegte sich dem überall rundlichen Müller-Sossima in den Arm. Das war ein Vater nach Percys Geschmack. Seine Sprache. Ein Hauch Mutter Fini. Mutter Finis Gellnauer Ton. Als das Messer das Steak nicht schnitt, sagte er: Des haut it. Genau so hat es Mutter Fini auch gesagt.
Wenn er einem Vater verfiel, erlebte er das jedes Mal, als sei es das erste Mal. Und das letzte Mal. Diesen Vater würde er nicht mehr hergeben.
4.
Wenn Herr Müller-Sossima nach der Probe mit ihnen essen wollte, wurde immer im Abtszimmer gegessen. Jetzt immer mit Kirki und Massimo. Kirki war ein kleiner mediterraner Vogel, eine fast winzige Frau. An ihr fand das Alter nichts, was es zerstören konnte. Sie hat sicher vor zwanzig Jahren nicht anders ausgesehen als jetzt. Und Massimo glühte vor Eifer, ihr in jeder Sekunde zu demonstrieren, dass er jetzt nur noch für sie leben und arbeiten wolle. Der Professor hatte, als er Kirki begrüßt hatte, gesagt, Kirki in Scherblingen zurückzulassen hieße, die eigene Seele zurückzulassen.
Herr Müller-Sossima trat immer als der selig Erschöpfte ins Abtszimmer. Jedes Mal wurde erlebbar, was er wieder vorhatte. Außer Essen und Trinken. Es müsse jetzt ausgesprochen werden, sagte er diesmal, worauf die Ankömmlinge sich freuen dürften. Er sei kein Wohltäter. Aber ein Täter. Immer gewesen. Am 2. September, an Mutters Geburtstag, werde er, wie sie schon wüssten, Mussorgskis Paradestück dirigieren. Um elf Uhr. Dann das Festmahl. Die Tischrede werde er nicht selber halten, sondern – und wem zuliebe würde er lieber auf das Vorrecht der Tischrede verzichten als dem zuliebe, der die Tischrede am 2. September halten wird – Michail Gorbatschow! Gorbatschow will, sagt er, in seiner schönsten Stunde zu ihm stehen, weil er in Gorbatschows schlimmsten Stunden bei ihm war, am 19. August 1991, als in Moskau gegen Gorbatschow geputscht wurde, als so gut wie alle ihn verlassen hatten, als er nur durch seinen Rücktritt einen Bürgerkrieg verhindern konnte. Und mit ihm sei ja die politische Kommission des Nationalrats zu Gorbatschow gestanden. Wenn Michail Gorbatschow die Eröffnung der Sofja-Akademie feiere, sei sie in der Epoche angekommen. Abends werde er, müsse er selber das Wort ergreifen und sich vom Wort ergreifen lassen. Im Großen Saal. Da wird er die Sofja-Akademie der Öffentlichkeit vorstellen. Gestatten, Sofja-Akademie, Rheinau. Die Akademie für Unvollendete. So wird sie heißen. Sechshundert Zellen hatte das Kloster, zwölfhundert Patienten die Klinik. Das Kloster von 844 bis 1863, die Klinik von 1867 bis 2000.
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