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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Und jetzt von 2007 bis in alle Zukunft hinein: Akademie für Unvollendete.
    Alle, die durch irgendwelche Schicksale verhindert wurden, Musik zu studieren, sollen jetzt auf der Insel Rheinau Musik studieren. Eine Musikwelt soll entstehen, in der es keine Verhinderung mehr gibt. Dafür hat er gesorgt. Das ist organisiert. Das wird am 2. September der Öffentlichkeit serviert. Und was er an diesem Abend im Großen Saal sagen wird, wird er nicht ablesen von einem Papier. Und damit will er von Anfang an sagen, dass in dieser Akademie nie vom Papier gelesen wird, was zu sagen ist. Nur was einer sagen kann, ohne es abzulesen, soll hier gesagt werden. Weil nämlich, was auf der Insel Rheinau gesagt wird, von Erfahrung leben und von Erfahrung zeugen soll. Die Erfahrung ist die Mutter der Notwendigkeit. Und notwendig soll sein, was hier gesagt wird. Und damit ist schon gesagt, warum ihm die Ankunft Augustins wichtig ist. Als er erfuhr, was mit Augustin dort passiert ist, habe er sofort gespürt: Das ist eine Fügung ihm zuliebe, seinem Projekt zuliebe. Deshalb sei er sofort hinüber und habe sich dort von mehr als einem unterrichten lassen. Erst zuletzt von Augustin selbst. Herr Dr. Bruderhofer schwelgte zuerst im Rechthaben. Ein Selbstmord in der Geschlossenen Abteilung. Der Staatsanwalt will wissen, wie so etwas möglich ist. Das sei, sagt Dr. Bruderhofer, die Spezialtherapie Professor Feinlein. Das sei keine Panne, das sei ein Ergebnis. Ein Menschenleben, geopfert auf dem Altar der Gesundbeterei. Er, der Schweizer, bietet Herrn Dr. Bruderhofer an, Professor Feinlein einzuladen in die Schweiz. Auf Ehrenwort. Des Inhalts: Augustin Feinlein werde der Forensik Genüge tun. Werde den Fall der Selbsttötung der Staatsanwaltschaft verständlich machen. Soweit so etwas verständlich sein darf. Und die Monstranz-Geschichte ist eine Anekdote ohne rechtlich fassbare Folgen. Und siehe da, nach zweitägigem Reden, auch unter Einbeziehung der Ärzteversammlung, darf Augustin Feinlein Scherblingen verlassen. Und darf mitnehmen, wen und was er will. Unter seinen politischen Handlungen sei Augustins Befreiung aus Scherblinger Banden wirklich die simpelste. Jetzt seien sie da. Auf der Insel. Und wenn sich etwas so fügt, wie sich das mit Augustin gefügt hat, dann spürt er, dass seine Akademie leben wird. Für ihn würde, was Augustin passiert ist, genügen, hier auf der Insel eine Akademie zu gründen, in der Augustin wirken kann. Dass er nun aber schon eine Akademie konzipiert hat, die er Augustin anbieten kann, das zeigt die geradezu stürmische Gunst der Stunde. Der Akademie für Unvollendete konnte nichts Schöneres passieren als deine Ankunft. Deine und die deiner Getreuen. Ich darf endlich Musik machen und darf endlich meinen Freund bei mir haben. Das Leben strotzt auf einmal vor Sinn. Augustin, verzeih mir, dass mir erst in diesem Augenblick einfällt, dich zu bitten, von jetzt an hier zu wohnen in den Räumen, in denen die Äbte und die Klinikdirektoren gewohnt haben. Du bist der Direktor meiner Akademie! Lasst uns darauf trinken, dass dem Leben nicht schwindlig werde vor diesem Andrang an Erfüllung. Sie tranken.
    Modest Müller-Sossima war ein Redner. Ein geborener Redner. Man erlebte direkt, wie ihm, was er sagen wollte, zuflog, wie es ihn belebte, ja, beglückte. Man erlebte jedes Mal, wenn er sprach, die Geburt einer Rede. Ihm wurde alles zur Rede. Und: Er warb nicht um Zustimmung zu dem, was er sagte. Er teilte es mit, als sei es die einzige Möglichkeit.
    Percy wollte keinen anderen Vater mehr als Modest Müller-Sossima. Und dachte wieder: Sobald seine Mutter tot ist, adoptier’ ich ihn. Dass ein Sohn einen Vater adoptieren kann, ist doch längst fällig. Jedes Zusammensein mit diesem Mann vermehrte, was Percy mit ihm gemeinsam haben wollte oder schon hatte. Reden ohne Aufgeschriebenes! Percy wusste geradezu, Herr Müller-Sossima werde beim nächsten Abendessen fordern, dass nicht nur nichts Aufgeschriebenes gesagt werde, sondern dass auch nichts Gesagtes aufgeschrieben werde. Und als das beim nächsten Abendessen tatsächlich genau so geschah, konnte Percy sich nicht beherrschen und rief: Jaa, genau!
    Jetzt war es der Professor, der seinem Freund Modest erklärte, dass Percy bei seinen öffentlichen Reden nicht nur nie Aufgeschriebenes ablese, sondern es auch ablehne, dass, was er sage, aufgeschrieben oder aufgenommen werde. Ihm gegenüber habe Percy einmal das Ablesen von Fixiertem als Trivialisierung des Augenblicks

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