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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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der von der Figur abgeschlagene Kopf der Figur. Für Zahlungsfreudige hatte Massimo einen silbern angemalten Geigenkasten neben den Professor zu platzieren. Einmal pro Woche geschah das. Abends holte Massimo den Professor ab, brachte ihn zurück auf die Insel. Beim Essen war der Professor dann wieder der Professor. Da er zweifellos wusste, dass Percy und Innozenz von Massimo über seine Ausflüge informiert wurden, hielt er es offenbar nicht für nötig, mit ihnen darüber zu sprechen. Er meldete allerdings jedes Mal, wie viel Euro und Franken im Geigenkasten gelandet waren.

6.
    Es war am letzten Sonntag im August, genau eine Woche vor dem Festtag aller Festtage. Herr Müller-Sossima kam wieder um neun herum ins Abtszimmer, das inzwischen ganz und gar Augustin Feinleins Zimmer war. Und Kirki führte den Vierzimmerhaushalt. Augustin setzte sich jetzt immer aufwandlos auf den Stuhl an der Stirnseite des Tischs. Kirki ließ sich in der Küche und beim Servieren von Massimo helfen. Und wenn serviert war, setzten sich beide dazu. Herr Müller-Sossima war an diesem Abend noch lebhafter als sonst. Oder war er aufgeregter? Er sagte es gleich selber, dass ihn die Proben zugleich zum glücklichsten wie zum elendesten Menschen der Welt machten: Dass er die Musik so lange habe warten lassen, verzeihe sie ihm nicht. Die Musik! Davon wolle er heute nicht reden. Sein Leben sei ja nichts anderes gewesen als ein andauerndes Aufschieben von allem, was ihm wichtig gewesen war, er habe immer nur das Zweitwichtigste getan statt das Wichtigste. Politik, Thur-Tech, Familie, Musik. Und selbst jetzt verfahre er mit sich und seinen Freunden nach diesem Aufschubprinzip. Aber an diesem Abend, genau eine Woche vor SEINEM Abend, an diesem Abend müsse hier endlich gesprochen werden über Augustins Jenseits. Alle hier haben es gelesen, haben sich rühren und berühren lassen, aber nie davon geredet. Jetzt schaut hin zu ihm, schaut ihn an, wie sich seine zarte Zunge zwischen die bescheiden bleiben wollenden Lippen schiebt. Augustin ist gespannt auf unsere Reaktion. Jeder von uns hat ihn sicher schon beiläufig wissen lassen, dass ihm sein Jenseits gefallen habe, weil wir darin Augustin näher kommen, als er es uns sonst gestattet. Gut. Jetzt aber mein Geständnis. Als ich gehört habe, dass Augustin vor der Dießenhofener Brücke den Stillstehenden, den Erstarrten spielt, hat es bei mir gefunkt. Über dem Rhein drüben und droben auf dem Hügel das Schloss. Und heißt Wigolfing. Ich kann nicht so tun, als spürte ich nicht eine Tendenz in Augustins Zurschaustellung. Ich kann auch nicht so tun, als erinnerte er mich in dieser Pose nicht an eine Erscheinung in Rom. Ich weiß, dass darüber nicht geredet werden muss. Aber wir, wir in diesem erhabenen Raum, dieser Raum lebt ja von lauter Dargestelltheit, wir wollen, wir können hier nicht so tun, als spürten wir nicht die Tendenz in Augustins Silber-Erscheinung. Kurzum, ich hab’s nicht ausgehalten, ich habe hinfahren müssen und vorbeigehen müssen an der Silber-Erscheinung. Ich war, Augustin, ich war, entschuldige, erschüttert. Das geb’ ich zu. Lieber Augustin, wir trinken jetzt auf deine Silber-Erscheinung.
    Es wurde getrunken.
    Und Augustin: Ich danke dir, Modest. Und sage auch gern, dass ich heute, als ich die Beute zählte, gewusst habe, dass du vorbeigekommen bist. Ich kann ja inzwischen stehen, ohne die Augen zu öffnen. Aber als ich dann im Geigenkasten den Fünfzigfrankenschein sah, habe ich gewusst, dass du da warst.
    Herr Müller-Sossima ging bald. Die Musik, sagte er.
    Percy, im Bett wieder: Den adoptier’ ich.

7.
    Sie habe gerade das erste Panorama des Mussorgski-Stücks gespielt. Nel modo russico, steht da drüber. Da ruft Modest, dass er sich nicht wohlfühle. Mich sticht’s überall hinein, sagt er. Sie hört nicht auf zu spielen, ruft aber zurück, er solle ein bisschen hin und her gehen, das tue ihm gut. Er tut’s und ruft: Das tut mir tatsächlich gut. Sie spielt weiter, ruft aber, nachdem sie
Das Alte Schloß
gespielt hat: Und, wie ist es jetzt? Keine Antwort. Sie ruft dreimal. Keine Antwort. Geht hinüber. Er liegt auf dem Teppich. Sie hin. Sie sagt: Was machst denn du für Sachen. Aus einem Mundwinkel fließt Blut. Sie ruft den Notarzt. In sieben Minuten ist der da. Mit drei Pflegern. Sie stecken ihm eine Leitung in den Mund. Pumpen. Der Brustkorb geht auf und ab. Die geben nicht auf. Dann der Arzt: Wir kriegen nichts mehr hin. Ich muss Ihnen sagen: Ihr Sohn ist

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