Muttersohn
sich um ein kleines rundes Tischchen, der Ober servierte Kaffee. Dann erst fing der Professor an zu sprechen. Da Percy beim Essen neben dem Professor gesessen war, hatte er nicht beobachten können, ob der Professor wieder sein Professor war oder immer noch der Fremde, Unansprechbare, den er in der
Burg
besucht hatte. Jetzt, an dem runden Tisch, konnte er den Professor sehen. Der Professor sagte: Modest Müller-Sossima. Sein Freund. An Zufälle habe er noch nie geglaubt. Er kam auf einer Bergwanderung in Graubünden als Erster an die Stelle, auf die der Hubschrauber mit dem Brigadier Müller-Sossima gestürzt war. Pilot und Copilot waren tot, Modest Müller-Sossima bewusstlos. Der Hubschrauber war im Nebel auf dem Heinzenberg an einer Tannengruppe hängengeblieben. Der Professor befreite den Ohnmächtigen aus seiner Lage und versorgte ihn, so gut er konnte, stellte mit Hilfe des Bordfunks eine Verbindung zur Truppe her, innerhalb einer halben Stunde kam die Hilfe, auch per Hubschrauber. Modest Müller-Sossima überlebte. Auf der linken Seite von der Schulter bis zu den Zehen alles gebrochen, was brechen kann. Und eine der gebrochenen Rippen stach auf die Milz zu, blieb einen Zentimeter vor der Milz stecken, hätte sie die Milz erreicht, wäre Modest Müller-Sossima verblutet. Sie wurden Freunde. Es war dies das letzte Manöver, an dem Müller-Sossima noch teilnahm. Das erzählt er euch besser, als ich es kann. Morgen Abend. Von sechs bis neun probt er. Hier im Großen Saal. Mit einem Orchester. Aber das erfahrt ihr alles von ihm.
Er stand auf, holte vom Schreibtisch zwei Kuverts, gab eins Innozenz und eins Percy. Er wolle die Nacht bei den Pferden bleiben. Und ging. Massimo und Luigi verabschiedeten sich, Innozenz und Percy öffneten die Kuverts. Darin waren Grundrisse und Wegleitungen zu den Zimmern, die sie bewohnen würden. Percy C/333, Innozenz C/334. Ihr Gepäck war offenbar schon hinaufgebracht worden. Und dass man sich noch an diesem Abend in der Prälatur treffen werde, stand auch da. Die Etage C war die oberste. Ihre Zimmer gingen zum Großen Rhein hinaus. Herüber vom Festland waren sie über den Kleinen Rhein gekommen. Percy griff, als er in seinem Zimmer war, nach dem Bilderbuch auf seinem Schreibtisch. Rheinauer Buch hieß es. Er war wieder in einem ehemaligen Kloster gelandet. Der Professor war, als er ihn in der
Burg
besucht hatte, in einem Zustand gewesen, dass sich Percy eigentlich hätte verabschieden müssen. Der Professor hatte fast militärisch kurz darüber informiert, wie es jetzt weitergehe. Mit ihm weitergehe. Wenn Innozenz und Percy mitkommen würden, wäre das ihr eigener Wille und Entschluss. So hatte es geklungen. Jetzt, auf der Insel angekommen, spürte Percy, dass er dem Professor gefolgt war, wie ein Stückchen Eisen dem Magneten folgt. Er hatte sich nichts anderes vorstellen können. Und da ihm daran lag zu erkennen, was mit ihm passierte, sagte er sich jetzt, dass er immer jemandem gefolgt war. Aber wenn er dem Professor gefolgt war, war er nicht nur einem Menschen gefolgt, sondern … Sondern? Er hatte für diese Anziehung kein Wort. Er folgte. Das spürte er. Und es war eher wohltuend zu spüren, dass es nicht ein einzelner Mensch war, dem er folgte, sondern etwas, was durch diesen Menschen wirkte. Was es war, würde er kennenlernen.
2.
Percy hatte den Eindruck, Modest Müller-Sossima sei belustigt. Er kam herein, spielte den Erschöpften. Stöhnte: Musiker sind so anspruchsvoll. Und der Mussorgski! Sauschwer. Für einen ehrgeizigen Amateur sowieso. Ihr seid jetzt meine Reha. Von jetzt bis zum 2. September. Seine Mama wird, wenn er den Mussorgski schafft, schweben. Ihr werdet Zeugen einer säkularen Levitation. Sofja Andrejewna Müller-Sossima nimmt es in die Luft. Der Große Saal ist elf Meter hoch. Also so schnell stößt sie nicht an oben. Augustin, du wirst neben ihr sitzen. Du könntest dich ein bisschen an sie klammern. Sie reißt dich natürlich mit. Aber sie kommt dann doch nicht bis an die Decke. Und nach dem 2. September könnt ihr mit mir auch über etwas anderes reden als über Sofja und Mussorgski. Aber bis zum 2. September über nichts anderes. Gell, Augustin. Du weißt Bescheid. Augustin und ich sind die einzigen Freunde, die es gibt. Ich darf sagen, was ich sagen will. Sagen muss. Augustin erlaubt’s nicht nur, er will es. Ich habe ein Leben lang nicht sagen dürfen, was ich habe sagen wollen. Mein Vater, Gott hab ihn selig, das Militär, eine einzige
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