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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Fremdsprache. Nichts gegen Fremdsprachen. Mama war die erste Fremdsprache. Unsere Schweizer Sprache hat sie nie erlernt. Von ihr hat es nur Französisch, Russisch und Deutsch gegeben. Das Militär ist die schwerste Fremdsprache gewesen. Hat Spaß gemacht, aber der Helikopterschlag ist fällig gewesen. Sonst hätt’ ich keinen Freund in dieser Welt. Ja, die Firma. Sie ist ein Freund. Ein unfassbarer. Ein wildes Ross, das dich, ohne es zu wollen, in jeder Sekunde abwirft, wenn es dir nicht gelingt, den großen Reiter zu spielen. Um ihn spielen zu können, musst du natürlich einer sein, ein großer Reiter. Auch wenn du keiner bist. Erst Augustin hat mich sein lassen, wie ich bin. Wie ich wirklich bin. Wir haben uns auf einander zugeschrieben, Augustin und ich. Dieses Gefühl: Dir kann nichts passieren. Das allein ist Freundschaft. Nur das. Wenn dir was passieren kann, ist es Militär, Firma und all sowas. Von Mama sag ich nichts. Sie ist außer Konkurrenz. Ich könnte auch sagen: Sie ist absolut. So, und jetzt essen wir. Und beim Essen redet ihr. Das kann ich erwarten. Ihr könnt ja, da ihr mit Augustin kommt, nichts falsch machen. Guten Appetit, ihr Augustin-Zöglinge. Auf unser aller Wohl.
    Die Gläser wurden gehoben, es wurde getrunken, dann sagte er: Ein Margaux 78, das darf ich schon sagen. Weil ihr es sonst nicht wisst. Und einen Wein trinken, ohne zu wissen, wie er heißt, das ist, wie einen anonymen Brief lesen. Zum Wohl.
    Es wurde noch einmal getrunken.
    Nach dem Essen, bei dem keiner sprach, der Kaffee am Tischchen. Herr Müller-Sossima bot Zigarren an. Massimo und Innozenz griffen zu. Dann sagte er, sie müssten, wenn sie hier bleiben wollten, wissen, wie und was hier gespielt werde. Wie er und Augustin einander kriegten, habe Augustin ihnen gestern erzählt. Und gestern habe er, weil Michail Gorbatschow überraschend eingetroffen sei, in Bern sein müssen. Sein wollen. Nationalrat der Freisinnigen. Bis vor zwei Jahren. Von der Mutter hat er das Sossima. Sie, geboren in Petersburg, 1917, Sofja Sossima, 1939 von dem Schweizer Ingenieur Berthold-Traugott Müller aus einer beginnen wollenden Klavierkarriere weggeheiratet. Dieser Berthold-Traugott verbietet dem Sohn die Musik. Die Firma! Nichts als die Firma! Also wird gelernt, studiert, was die Firma will. Thur-Tech, Büromaschinen. Er weiß, befreien kann dich nur der Erfolg. Und konstruiert Oblomov. Oblomov I war das. Inzwischen wird Oblomov XIV in siebzehn Ländern produziert. Eine Daten-Schredder-Großanlage, die, egal was man ihr gibt, zu Staub zermahlt. Der Erfolg war da. Also darf er in die Politik. Zu den Freisinnigen. Wegweisend ein Freund, Ernst Mühlemann. Er hat ihm gezeigt, was man von sich verlangen kann. Eine Leidenschaft verband sie: Russland. Russland muss in den Europarat. Also selber nach Straßburg, in den Europarat, dort Moskau-Spezialist, russophil genannt, keiner kann Russisch wie er. Gorbatschow erscheint und wird Modests Freund. Glasnost, Perestroika, für ihn wird’s ein Fieber. Als Gorbatschow an dieser steilen Kaukasus-Böschung Helmut Kohl die Hand reicht, um ihm heraufzuhelfen, steht Modest hinter Gorbatschow, um ihn, falls Kohl zu schwer wird, zu halten.
    Als im Sommer 89 die russischen Arbeiter nicht mehr mitmachen und überall im Land streiken, war Modest bei Michail, und der verkündete: Ein Drittel des Parteivermögens der KPdSU wird sofort unter den Armen verteilt. 1,5 Milliarden Mark. Das hat noch keine KP geschafft. Sein Beitrag: Der 20-Fragen-Katalog, mit dem Straßburg ihn nach Moskau schickt. Zwanzig Fragen, ob Russland reif sei für Europa. Die Juristen verneinen das. Er hin mit den zwanzig Fragen und dort herumgereist. Mit einem Kamov-Hubschrauber. Recherchiert, wie noch nie recherchiert wurde in Russland. Und zurück. Wie hat sich Russland benommen in den drei Krisen, 1984, 1991 und 1993? Die Europäer in Straßburg tun sich schwer. Aber am 24. Januar 1996 ist es so weit. Zuerst die längste Debatte, die der Europarat je hatte. Ernst Mühlemann und er, ohne Ernst wäre er nie so weit gekommen, sie beantworten hundert Wortmeldungen, ohne Manuskript, nehmen Stellung zu 36 Abänderungsvorschlägen. Abends um sieben sind es 164 Ja- und 35 Nein-Stimmen. 15 Enthaltungen. Er hinaus, ans Telefon: Mama! Russland ist zurück in Europa! Und sie: Vor einer Stunde ist Berthold gestorben. Er konnte nichts mehr sagen. Also sagte sie: Einfach so. Vom Stuhl gefallen. Sie am Klavier. Herr Müller-Sossima machte eine Pause. Dann

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