Muttersohn
aber ersticke nicht ganz. Wenn doch einer käme, der an meinen Füßen zöge. Dass es ein Ende hätte. Ihr mit eurem nachgemachten Grauen. Ich hätte Lust, laut zu werden. Aber ich bin und bleibe nur: Gretel Strauch.
Percy dachte an Innozenz. Diese Verführung in allem. Dass eine Bedeutung sei.
Als er das für morgen mit Luzia Meyer-Horch in die Wege geleitet hatte, ging er in den Bibliothekssaal, auf die Orgel, und überließ sich der Verantwortungslosigkeit.
7.
Percy wartete unten, sah ihr entgegen, sah, wie unsicher sie ging, so als tastete sie sich vorwärts. Sie sah beladen genug aus. Unterm rechten Arm die violette Kinderbadewanne, unterm linken hing die Gitarre, auf dem Rücken der immer prallvolle Rucksack. Als sie da war, öffnete er die Tür, drinnen gab er ihr die Hand und sagte: Ich danke dir. Noch nie war er so einverstanden mit seinem Du. Er dachte an Pfarrer Studers Gott segne meinen Eintritt. Ihre Hand ließ er nicht gleich los. Er spürte, dass es jetzt nichts Wichtigeres gab als ihre Hand in seiner Hand. Ihre Hand war kalt. Und hart. Vielleicht würde er jetzt eine unmessbare Zeit lang hier stehen, ihre Hand in seiner Hand. Bis er die Kälte nicht mehr spürte. Er drückte ihre Hand überhaupt nicht, aber er hatte sie doch so im Griff, dass sie spüren musste, er würde ihre Hand nicht mehr loslassen. Ihre Hand wehrte sich nicht gegen seinen Griff. Er schaute ihr in die Augen. Das war das, was über die zwei in einander liegenden Hände entschied: ihre Augen. Wenn sie nicht beide in Trainingsanzügen gekommen wären, hätte er diesen trüben Blick vielleicht nicht ausgehalten. Aber dass sie auch im Trainingsanzug gekommen war, belebte ihn. Er wartete nicht. Er erlebte ihre Hand. Und hoffte, sie erlebe seine Hand auch. Sie starrten einander in die Augen, wie unter anderen Umständen Menschen einander nicht in die Augen starren können. Irgendwann wurde ihr Blick dunkler. Nicht entgegenkommender. Schmerzlicher. Leidender. Lebendiger. Jetzt ließ er ihre Rechte frei, nahm die Linke und ging mit ihr die Treppe hinauf bis in den Dachboden. Der hatte der Klinik, bevor sie sich drüben im Wald neu erbaut hatte, als Ruheraum gedient. Eher ein Saal als ein Raum. In der Klosterzeit ein Getreidespeicher. Jetzt leer. Vollkommen leer. Durch die Gaupen fiel, fast romantisch, Tageslicht auf die alten Dielen.
Er zog seine Schuhe aus. Sie tat das Gleiche. Sie sagte, in einem sogenannten Standardwerk habe sie gelesen: Die Psychotherapie beschäftigt sich mit Missratenen. Da sie ja als Psychotikerin für Psychotherapie nicht in Frage komme, könne sie über solche Sätze grinsen. Sie sage ihm das auch gleich, dass er wisse, sie erwarte von diesem Dachbodentermin rein gar nichts. Percy nahm wieder ihre linke Hand und ging los. Immer an den Wänden entlang. Er ließ ihre Hand nicht aus seiner Hand. Steigerte das Tempo. Sie machte sein Tempo mit. Sie rannten nicht, aber sie gingen schnell. Noch gingen sie stumm. Gretel Strauch machte mit. Das spürte er. Er würde gehen, solange er diese Zustimmung spürte.
Vor zwei Jahren waren sie im selben Raum an den Wänden entlanggegangen, bis Gretel Strauch nicht mehr konnte. Irgendwann war sie stehengeblieben und dann auch gleich auf die Knie gesunken, dann war sie auf dem Boden gelegen, rücklings, Atem holend mit offenem Mund, schweißüberströmt. Und er hatte sich neben sie gelegt und hatte durch sein Schnaufen zugegeben, dass auch er außer Atem war. Auch diesmal musste gegangen werden, bis sie nicht mehr konnten. Es war ein unerklärter Wettbewerb. Sie musste zuerst zu Boden. Wichtig war, dass er ihre Hand, wenn sie in die Knie ging, nicht gleich loslassen würde. Erst wenn sie lag. Dann musste er aus seinem Rucksack, der neben der Tür lag, Wasser holen. Fünf Flaschen hatte er dabei und zwei Becher.
Wie oft sie vor zwei Jahren zu Boden gegangen war, wusste er nicht mehr. Auf jeden Fall war es schon dunkel geworden. Sie hatte sich aufgesetzt, mit dem Rücken zur Wand, er hatte von den vier Deckenleuchten eine angemacht. Dann waren sie gesessen und hatten noch lange nicht gesprochen. Irgendwann hatte er gesagt, dass er ihr etwas vorsagen wolle. Falls sie Lust habe, könne sie, was er vorsage, nachsprechen, es seien liebenswürdige Texte, und am schönsten wäre es für ihn, wenn sie beide die Texte so oft aufsagten, bis sie sie auswendig könne. Und das war dann, was sie taten. Eine Zeit lang. Dann war er wieder aufgestanden, hatte ihr die Hand gereicht, sie
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