Muttersohn
Art Verantwortungslosigkeitsgenuss. Vielleicht würde Luzia Meyer-Horch ihn abbringen von dem, was er wollte. Und nicht wollen wollte. Luzia Meyer-Horch, die Schlüsselbewahrerin für Saal und Orgel. Aber heute kam er nicht bis zum Portal. Eine Frau verstellte ihm den Weg. Unter einem Arm eine grellviolette Kinderbadewanne, umgehängt eine Gitarre ohne Hülle, auf dem Rücken einen prallen Rucksack. Sie stand vor ihm, hielt ihm ein großes Kuvert so hin, dass nichts übrigblieb, als es zu nehmen.
Gretel Strauch, sagte er. Seit wann verkehren wir per Papier mit einander. Ich habe schon gehört, dass du wieder eingetroffen bist.
Lesen Sie’s trotzdem, sagte sie.
Lesen reicht nicht, sagte Percy. Setzen wir fort, was wir vor zwei Jahren angefangen haben. Morgen in der Alten Kornscheuer. Um fünf.
Nichts verriet, dass sie ihn gehört oder gar verstanden hatte. Sie schaute ihn an, ihr Mund halb offen, und im halboffenen Mund kreiste die Zunge. Er wusste, dass sie so Stunden vor einander stehen konnten. Dass ihre Zunge so kreiste, wie rasend kreiste, war ihr eine Qual. Vielleicht wollte sie ihn sogar zum Zeugen machen: Da schau, das sind eure Medikamente. Dyskinesie, irreversibel, wa!!!
Aber dann schaffte sie doch noch einen Satz: Don’t talk to a tortured.
Morgen um fünf, sagte er.
Sie drehte sich um, als drehe sie sich gegen einen übermächtigen Widerstand um. Und ging. Er sah ihr nach. Ihr tastender, andauernd entgleiten wollender Gang. Der Medikamentengang. Eine Art Pflichtgefühl befahl: Nicht auf die Orgel! Ins Zimmer! Im Zimmer musste er das Kuvert öffnen. Dem Kuvert sah man an, dass es durch viele Hände gegangen war. Die Seiten, die er herauszog, waren eng beschrieben. Das wirkte, als sei es die Aufgabe der Schreiberin gewesen, auf diesen Seiten keinen Quadratmillimeter unbeschrieben zu lassen. Er wusste, was ihn erwartete, hätte die Seiten lieber weggelegt. Die Klagen der Patienten gleichen einander. Diese Seiten aber konnte er nicht weglegen, weil er direkt angesprochen wurde: Gehen Sie! Verschwinden Sie. Sie verpesten die Luft mit Ihrer guten Laune. Ihr Lächeln können Sie sich in den Arsch stecken. Hier wird gefoltert. Hier setzt der Euthanasist Bruderhofer niederschmetternde Psychopharmaka per Gerichtsbeschluss gegen die Patienten durch. Alle Qual, alles Unfähigwerden und Unlebendigsein, alles Verrecken durch diese Zwangsmedizin ist übrigens nur Nebenwirkung. Dass einer um Hilfe ruft, kann nicht gehört werden, denn es findet nicht statt. Was wirklich stattfindet, findet nicht statt. Was nicht stattfindet, findet statt. Die Zwangsprediger haben das Wort. Und das Wort ist Pharmakon geworden und hat die Herrschaft übernommen in Scherblingen. Früher haben sie Juden in ihre Kirchen gesperrt und ihnen die Ohren vollgeschrien. Jetzt sind wir dran. Die Juden konnten sich in den Kirchen die Ohren mit Wachs zustopfen. Gegen das elektronische Geschrei der Heutigen hilft kein Wachs. Ihr sagt: Unsere Stimmen gibt es nicht, also sind wir verrückt, wenn wir sagen, dass wir die Stimmen hören. Dabei kann jeder von uns aufschreiben, was ihm die Stimmen sagen. Nichts ist so sicher, wie dass es die Stimmen gibt. Wenn wir die Macht hätten, wie ihr sie habt, könnten wir sagen: Ihr seid verrückt, wenn ihr die Stimmen nicht hört. Es gibt sie, sie quälen uns. Perfekt montiert. Der längst wahnsinnige Führer schreit Tag und Nacht mir aus den Zähnen heraus. Sie, Herr Baron, wissen das alles und wandeln darüber hinweg wie Jesus über den See Genezareth. Ihr Glaube macht Sie selig. Uns nicht. Jetzt aber schnell weg. Fort. Ab nach Kassel. Sie sind nicht würdig, dass Sie atmen die Scherblinger Luft. Sie nehmen uns den Sauerstoff. Wir sind nämlich am Ersticken.
Sie, Herr Baron, arbeiten mit dem Systemkollaborateur Horst-Jürgen Storch alias Innozenz zusammen. Hüten Sie sich vor diesem Ermöglicher des Unmöglichen. Ich schick ihm auch was hin. Dreizehn leere Seiten. Nummeriert. Aber leer. Für seine einlullende Anthologie. Die Welt dröhnt von einlullenden Anthologien. Jetzt also auch Scherblingen. Eine Schande. Mein Sohn, ein Praktikum beim Bau, stürzt sich angeblich selbst vom Gerüst. Tot. Mein Mann lässt sich scheiden. Von mir. Weil ich den Sohn vom Gerüst gestürzt habe. Die Uni hat sich auch scheiden lassen von mir. Ich möchte mich auch scheiden lassen von mir. Was ist nicht alles versucht worden! Was das Medikament macht mit mir: Ich bin am Strang hingerichtet worden. Der Stuhl ist weg. Ich baumle,
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