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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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du einen Engelverstand, so wollten wir wohl fein davon reden, aber so siehet es nur der Geist, und die Zunge kann’s nicht erheben, denn ich kann keine anderen Worte als die Worte dieser Welt.
     
    Percy ließ ihr und sich wieder Zeit. Dann sagte er:
    Jakob Böhme, der war 1575 bis 1624, geboren in Altseidenberg, gestorben in Görlitz.
     
    Als sie auch das befestigt hatten, gingen sie Hand in Hand langsam die Treppe hinunter und drunten hinaus. Sobald sie draußen waren, ließ er ihre Hand los. Sie verabredeten sich: Übermorgen. Dann sagte er noch: Gretel Strauch, du hast mir unheimlich imponiert, ehrlich.
    Sie sagte: Aber wohin mit mir.
    Und ging.

8.
    Da er, wenn er eilig aussah, überhaupt nicht hastig wirkte, bleibt nichts übrig, als seine Art zu gehen übermütig zu nennen. Wie die Fußspitzen mehr nach links und rechts als nach vorne hinausstachen, da wunderte es einen, dass er vorwärtskam. Dieser Engel ohne Flügel. Dieser – Harry Strawinski mög’ es verzeihen – Tänzer der Gewichtigkeit. Er war nämlich nicht schwer, sondern gewichtig. Er fing etwas an mit seinem Gewicht. Schon sein Blick. Trotz innozenzischer Halslosigkeit und ebensolchem Rundrücken, sein Blick war immer hinausgerichtet. Ja, sogar nach oben. Er selber erlebte sich hinaus- und hinaufschauend und ebenso gehend. Er war eben mit seiner Art zu gehen einverstanden. Gehen war überhaupt sein Lebenssinn. Als er von Stuttgart aufgebrochen war, hatte er einen ledernen Rucksack, einen dunklen runden ledernen Hut und einen Stock. Der nach oben dicker werdende Stock endete nicht in einem Bogen als Griff, sondern in einer Ledermanschette. Die hatte Percy selber an diesen Stock montiert. Auch die lederne Schlaufe, durch die er mit der linken Hand schlüpfte, wenn er ging, hatte er selber angebracht. Das hatte ihm, als er vor sieben Jahren angefahren worden war, das Leben gerettet. Er hatte noch den linken Arm bewegen können, und an der Hand hing der Stock, mit dem er dann den Hut auf die Straße hinaushielt, dass Pfarrer Studer ihn retten konnte. Der Stock endete in einem Stahlstift. Percy benützte den Stock nur, wenn er von Ort zu Ort wanderte. Also jetzt, im Scherblinger Anstaltsgelände, gab es keinen Stock. Da sah er sich gehen, wenn er ging. KVII Station 17 war sein Ziel. Station 17 war die vorletzte Station für alle, die hier mit mehr als einem Gutachten für einen Prozess präpariert wurden. Wer Station 18 oder 19 erreichte, war dem Staatsanwalt entwunden und hatte es nur noch mit den Ärzten zu tun.
    Der Eintritt wie immer. Ewald Kainz wie immer. Das hieß jetzt: zwar das Handy in der Rechten, aber die Schuhe unterm Bett.
    Percy sagte: Lieber Ewald. Dann nichts mehr. Hatte ihn aller Mut verlassen? Wollte er zum Anfang zurück, zwei, drei Stunden sitzen und nichts sagen? Lieber Ewald Kainz, sagte er noch einmal. Er fand es passend, dass draußen mächtige Wolken von einem geradezu fauchenden Wind über den Himmel gejagt wurden. Immer wieder verfinsterte sich das Zimmer, eine Minute später war es wieder grell hell. Dass er das passend fand, konnte er nicht sagen. Warum eigentlich nicht? Gehörte es nicht gerade heute zur Situation, dass er mehr sagen konnte als bei seinen Besuchen bisher? Wie sollte er diesem zwei Meter fünfzig von ihm entfernt Liegenden sagen, dass er, was er jetzt sagen würde, eine Kindheit und Jugend lang von seiner Mutter eingebläut bekommen hatte? Briefe, nicht abgeschickte, Briefe, mit denen er lesen lernen musste, lange bevor er in die Schule kam. Immer wenn die Mutter eigentlich wieder einen Brief schreiben wollte, aber dann aus irgendwelcher Zermürbtheit doch keinen Brief schreiben konnte, musste Percy ihr die schon geschriebenen, nicht abgeschickten Briefe vorlesen. Oder, weil er sie längst auswendig konnte, vorsagen, aufsagen, vortragen.
    Anstatt Ewald etwas zu erklären, fing er einfach an. Er blieb aber genau so sitzen, wie er bisher immer gesessen hatte. Dann sagte er:
    Das Briefwerk. Josefine Schlugens gesammelte Briefe. Ich lese sie dir vor, obwohl ich sie auswendig kann. Aber dann könntest du alles für meine Erfindung halten. Also. Geschrieben an einen Ewald Kainz, dessen Adresse sie nicht hatte.
    Ewald richtete sich auf, stand auf, Percy erschrak fast.
    Percy, sagte Ewald.
    Dann setzte sich Ewald auf sein Bett, zog die Beine an und sah auf die gegenüberliegende Wand.
    Percy sagte: 1973, 10. Februar und so weiter. Sehr geehrter Ewald Kainz. Nur dass Sie’s wissen. Vor genau vier Wochen

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