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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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er erfüllt vom süßesten Himmelsgeschmack. Das blieb ihm als eine Sehnsucht nach Gott.
    Sie: Seuse, genannt Suso.
    Er sagte, dass sie das alles zwei Jahre lang behalten habe, sei für ihn ein Geschenk.
    Beide fingen jetzt gleichzeitig an zu gehen. Und zwar viel schneller, als sie bisher gegangen waren. Er hatte ihre Linke losgelassen.
    Er sagte:
    Non sum. Ich bin nicht. Ach, was liegt ein unaussprechliches Wesen in diesem Non sum. Ach, diesen Weg will niemand wandern, man wende sich, wohin immer man sich wende. Wir sind und wollen und wollen immer sein, immer einer über dem anderen.
    Sie:
    Jeder nimmt lieber auf sich zehn Werke als ein einziges gründliches Verlassen. Darum dreht sich immer alles, dafür setzen sie immer Leib und Seele ein, dass sie sein wollen, groß sein, reich sein, gewaltig sein. Davon kommt aller Jammer, alle Klage, dass wir gottlos sind, gnadenlos, lieblos. Davon allein kommt alles, was uns fehlt, nur davon, dass wir sein wollen.
    Er:
    Ach, das Nichtsein wäre all überall der wahre, ewige Frieden, wäre das Seligste, Sicherste, Edelste in der Welt. Aber niemand will das, sei er reich, arm, jung oder alt.
    Die höchste Schule und ihre Kunst, die man hier liest, die ist nichts anderes denn eine ganz vollkommene Gelassenheit seiner selbst, also dass ein Mensch stehe in solcher Entwordenheit, wie immer sich Gott gegen ihn erzeige, mit sich selbst oder mit seinen Kreaturen, in Lieb und Leid, dass er sich des befleißige, dass er allezeit gleich stehe in einem Aufgeben des Seinen, in wie fern es menschliche Dürftigkeit erzeugen mag, und allein Gottes Lob und Ehre ansehe, wie sich der liebe Christus bewies gegen seinen himmlischen Vater.
    Sie:
    Ach, Kinder, wer dich in dein Nichts will weisen, den empfange mit Dankbarkeit und mit Liebe, dass du genannt wirst, was du bist: Non sum. Und dass wir alle in diese Vernichtigkeit kommen, dass wir versinken in das göttliche Jetzt, das gebe uns Gott.
    Er:
    Wer dich in dein Nichts will weisen,
    Sie:
    Den empfang mit Dankbarkeit und Liebe.
    Er:
    Damit du in der Wahrheit daran erinnert wirst, was du bist: Non sum.
    Sie:
    Amen.
     
    Weil sie zum Schluss doch eher gerannt als gegangen waren, sanken sie beide zu Boden. Gerade bei ihren Rucksäcken. Es war dunkel geworden. Er schenkte Wasser ein. Sie tranken.
    Gretel Strauch sagte:
    Non sum.
    Er wiederholte: Non sum.
    Er ging weiter, sie ging mit.
    Er: Jakob Böhme.
    Wie ist doch in einem lebendigen Wesen alles so wunderbar und herrlich.
    Sie:
    Darf ich Dich, der Du die Wahrheit bist, lauschenden Herzens fragen, warum die Tränen, die der Unglückliche vergießt, ihm wohltun?
    Er:
    Du bleibst ewig friedvoll, wir aber haben mannigfache Prüfungen zu bestehen. Und doch wären wir aller Hoffnung bar, wenn wir unsere Tränen nicht vor Dir vergießen dürften.
    Sie:
    Wie kommt es aber, dass man Seufzer, Tränen, Stöhnen und Schluchzen gleichsam als eine süße Frucht von dem bitteren Baum des Lebens pflückt?
    Er:
    Du, o Herr, bist nur denen nahe, die zerknirschten Herzens sind.
    Sie:
    Du lässt Dich nicht von den Hochmütigen finden, wenn sie auch in ihrem Fürwitz die Sterne und den Sand zu zählen, den Sternenhimmel auszumessen sich erkühnen.
    Da sie gerade an ihren Rucksäcken vorbeikamen, blieb er stehen.
    Dann schlüpften sie in ihre Schlafsäcke und wünschten einander eine gute Nacht.
     
    Am Morgen kam die Wiederholung. Das kannte sie ja. Aber ohne Gehen. Sitzend, halb noch in den Schlafsäcken, sagten sie die Texte von gestern. Sie sagten sie einander. Beim Gehen hatte jeder die Sätze hinausgesprochen, in den Raum. Jetzt dienten ihnen die Sätze zum Dialog.
    Danach ließen sie sich Zeit. Percy ließ ihr Zeit. Irgendwann waren beide bereit beziehungsweise fähig, weiterzumachen.
    Percy sagte: Weiter mit Jakob Böhme.
    Es ist eine Zeit, sich selber zu suchen. Halte es niemand für Scherz.
    Weil er es in dem Vorsageton sagte, der zwischen ihnen eingeführt war, sprach sie, was er sagte, nach. Aber sie sagte es nicht im Vorsageton nach. Sie sagte es langsamer. Wie zu sich selbst.
    Und das waren die Sätze, die er ihr vorsagte und die sie dann sich selber vorsagte.
    Das Zentrum ist die Seele, und das Licht ist Gott. Gott ist im Himmel, und der Himmel ist im Menschen. Der innere Himmel zündet den äußeren an.
    Er entschwand unseren Augen, damit wir in uns gingen und ihn dort fänden.
    Du bist das Leben aller Seelen, das Leben alles Lebendigen. Du Leben meiner Seele.
    Ja, wenn ich eine Engelzunge hätte und

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