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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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hochgezogen, und wieder waren sie gegangen. Aber nicht mehr so schnell. Jetzt hatte er angefangen, die aufgesagten Sätze wieder aufzusagen. Immer zuerst er, dann sie. Beim Gehen waren die Sätze anders erlebbar als im Sitzen. Irgendwann hatte er bemerkt, dass sie nicht mehr konnte. Also hatten sie die Rucksäcke geholt, er hatte zwei Schlafsäcke mitgebracht, dann waren sie neben einander auf dem Boden gelegen. Er hatte erzählt, was das Auswendiglernen und Aufsagen in seinem Leben für eine Rolle gespielt hatte. Sie war eingeschlafen, er auch. Am Morgen war er vor ihr aufgewacht, hatte ihr, als sie wach wurde, zu trinken gegeben, dann waren sie, noch halb in ihren Schlafsäcken, mit dem Rücken zur Wand gesessen, und er hatte noch einmal alle Texte vom Vortag aufgesagt, und sie hatte alle Texte wiederholt. Im Sitzen. Dann hatten sie sich von einander verabschiedet und abgemacht, dass sie das jetzt zweimal pro Woche genau so wiederholen würden. Und das hatten sie getan.
    Als sie ihn jetzt auf dem Brunnenplatz angesprochen und gleich auch beschimpft hatte, wirkte sie wie ein Tier, das gehetzt wird. Er hatte, als sie ihre Beschimpfung beendet hatte, gesagt, dass er sie gern beschützen würde. Dieser Satz hatte genügt, die Verabredung für die Kornscheuer zu ermöglichen. Und jetzt gingen sie wieder an den Wänden entlang. Stumm. Ihre Hand in seiner Hand. Es gab nichts Wichtigeres als dieses Gehen. Bis sie nicht mehr konnte. Dann lag sie. Sobald sie lag, hatte er ihre Hand losgelassen. Als sie sich wieder aufsetzte, stand er auf, zog sie hoch, zeigte, dass jetzt wieder gegangen werden könnte. Sie machte mit. Aber in der zweiten Runde fing er an zu sprechen.
    Er sagte:
    Erhabenster, Gütigster, Machtvollster, Allgewaltigster, Erbarmungsreichster und Gerechtester, Verborgenster und Allgegenwärtigster, Lieblichster, Kraftvollster!
    Und sie fuhr fort:
    Du stehst felsenfest und bist doch nicht erkennbar; Du Unwandelbarer wandelst alles; bist niemals jung, niemals alt; Du ernennst alles und gibst die Hochmütigen der Vergänglichkeit preis, ohne dass sie’s fassen.
    Und er:
    Du bist immer geschäftig, immer ruhig, geeint und bedürfnislos, tragend, erfüllend und behütend, wirkend, sättigend und beschließend und ewig suchend, obwohl Dir nichts ermangelt.
    Und sie:
    Du bist die leidenschaftslose Liebe; Du bist der ruhige, milde Eifer; Deine Reue ist schmerzlos.
    Und er:
    Was aber bringe ich vor mit alle dem, mein Gott, mein Leben, Du meine heilige Wonne?
    Und sie:
    Welchen Wert haben überhaupt unsere Worte, wenn man von Dir redet?
    Und er:
    Und dennoch.
    Und sie:
    Weh denen, die Dich verschweigen.
    Und er:
    Ihr Schweigen ist gar zu beredt.
    Und sie, stehenbleibend, ausatmend:
    Augustin.
    Und er: Augustin ist immer unser Anfang. Du spürst, wenn wir ihn ansprechen, wir rufen ihn nicht an. Sondern? Gretel Strauch!
    Wir ernennen ihn, sagte sie.
    Und er: Dafür, dass du das nicht vergessen hast, danke ich dir.
    Sie wunderte sich auch darüber, dass, was sie vor zwei Jahren in diesem Raum ihm nachgesprochen hatte, jetzt genau so wieder gesprochen werden konnte.
    Und er: Und jetzt?
    Und sie: Unser Seuse.
    Ja, rief er, ja! Unser Seuse.
    Er:
    Er war allein. Dann bedrängte ihn ein Leiden. Schwer. Ganz absonderlich. Dann war seine Seele verzückt. In ihm oder um ihn. Und sah und hörte, was kein Mensch sagen kann.
    Und sie:
    Und doch voller freudenreichen Sinns. Das Herz war gierig danach. Ein fröhlicher Mut erfüllte ihn. Kein Wünschen mehr, kein Begehren. Er starrte in den Widerglast.
    Und er, jetzt wieder gehend:
    So gewann er seinem Selbst und allem Sonstigen ein Vergessen. Tag und Nacht gab es nicht mehr. Aus brach eine Süßigkeit des ewigen Lebens voll der gegenwärtigen, stillstehenden, ruhigen Empfindlichkeit.
    Sie:
    Und er sprach: Wenn das nicht das Himmelreich ist, weiß ich nicht, was Himmelreich ist. Wenn all unser Leiden nichts vermag gegen die Freude, die unauslöschliche.
    Er:
    So eine Stunde lang. Oder eine halbe. Ob seine Seele in ihm war oder von ihm geschieden, wusste er nicht. Als er wieder zu sich kam, war es ihm, als sei er aus einer anderen Welt gekommen.
    Sie:
    Sein Leib erlebte in diesem Augenblick ein solches Weh, dass er glaubte, außer beim Sterben sei ein solches Weh nicht möglich. Er kam zu sich mit einem heftigen Seufzer und fiel hin und schrie: O weh, Gott, wo war ich? Wo bin ich jetzt?
    Er:
    Und als er aufstehen konnte, sah man ihm nichts an. Aber innen, in seiner innigsten Innerheit, war

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