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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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strömen die überall Abgelehnten herein zu mir. Niemand sieht so genau wie ich: DIE WELT IST EIN TEXT . Was gesagt und geschrieben, was gelesen und gehört wird, es ist EIN Text. Die Welt ist nichts als ein Text. Aber als Text ist sie alles, was sie sein kann. Die Bewertungsgewohnheiten stehen dem Erlebnis, dass die Welt EIN Text sei, noch hinderlich im Weg. Aber schon wird spürbar, dass die Einteilung in Lyrik, Mathematik, Religion, Chemie, Prosa, Musik, Sport und so weiter eine durch Hilflosigkeit und Angst zustande gekommene Einteilung ist.
    Es gibt zum Glück heute schon fast keine Möglichkeit mehr, diese zur Grausamkeit und Willkür dienende Einteilung zu verstehen. Die entsetzliche Trennung der Existenzen in solche und solche. Die gewollte oder doch lachend geduldete Unverständlichkeit ganzer Bereiche. Das kalkulierte Missverständnis als Straftat zum Beispiel. Die Freude der einen über Unfähigkeiten anderer. Nichts als Peitsche und Scham. Und die Zeitvorstellung, eines der schmerzlichsten Folterwerkzeuge. Seit wir Text sind. Es ist nicht mehr möglich, das Leiden der unter der Zeit leidenden Jahrtausende noch nachzuempfinden. Wir wissen zum Glück nicht, wovon wir erlöst sind. Der Himmel oder der Kopf war voller Wörter für Nichtexistierendes. Nur zur Knechtung entwickelt. Seit wir ein Text sind und keiner allein sich nur im Geringsten verständlich wäre, ist es nicht mehr nötig, Einzelne zu knechten. Jeder ist durch andere vollkommen bestimmt und hat selber keine Mühe mehr: Der Irrgarten der Wörter wird wieder zum Paradies.
    Ich überspringe die Zeit des allmählichen Zusammenbruchs der kosmetischen Ausdrucksweise – ich habe diese Zeit noch nicht hinter mir. Spürst du jetzt die Hauptwerksdimension? Man muss, das ist das mindeste, die Handlung so weit treiben, dass sie nicht mehr möglich erscheint, erst von da an wird sie interessant. Aber was erscheint wem noch unmöglich? Diese Frage, o Percy, stellt das Hauptwerk!
    Percy, dass du gerade heute gekommen bist, hat eine noch gar nicht fassbare Bedeutung. Vielleicht bist du ein so starker Mensch, dass du, egal an welchem Tag du kommst, immer wirkst wie ein Lift, wie eine Emporhebung. Du bist die Erleichterung. Zum ersten Mal kann ich es wieder nennen, das Hauptwerk. Ohne zu fürchten, mir die Spürhunde auf den Hals zu hetzen. Hauptwerk. So soll es heißen. Jetzt hat es dieser Raum gehört. Ich verspreche aber allen hier wartenden Manuskripten, dass das Hauptwerk erst wieder bedacht wird, wenn die Scherblinger Anthologie steht. Percy, im Augenblick habe ich keinen Feind mehr. So leicht machst du mich. Direktor Geierlein winkt mir zu, ruft mir zu, ich soll ihm nichts übelnehmen, ruft er. Der gespenstisch unnachgiebige Dr. Schluderhose hebt beide Hände, zeigt sie richtig vor, er will mir zeigen, dass er kein Pharmakon mehr anrührt. Percy, ich danke dir.
    Er streckte beide Händchen aus. Percy ergriff sie und drückte sie. Lang.
    Innozenz zeigte auf einen Tisch, auf dem sich Bücher und Papiere häuften. Für unseren Professor, sagte er.
    Mein Jenseits, sagte Percy.
    Ich schaff’ ihm her, was es gibt. Dieser Blick auf die Reliquien! Die Heiligblut-Tropfen in unserer Stiftskirche, heute Religionstheater für Minderbemittelte. Wenn er das schafft, Percy, die Rehabilitierung der Reliquie! Zu mir kommt er und holt, was ich zusammentrage, nimmt immer nur so viel mit, wie unauffällig in seine Tasche geht. Wenn er Dr. Schluderhose begegnen würde und der entdeckte, woran der Chef des PLK Scherblingen arbeitet, er wäre erledigt. Du und ich, wir sind keine Feiglinge. Von dir spricht er wie ein Vater. Mich ernennt er zum Guten Geist. Er der Vater, ich der Geist, du der Sohn. Percy!
    Er war immer lauter geworden. Percys Namen hatte er gerufen. Laut gerufen. Dann hatten sie beide losgelacht. Innozenz wieder lauter als Percy. Er musste sich an Percy halten, so schüttelte ihn das Lachen. Und im Lachen musste er noch ein paar Male wiederholen. Er der Vater, ich der Geist und du der Sohn. Und lachte noch einmal.
    Da fiel die Lampe von der schrägen Decke und zersprang.
    Danke, sagte Innozenz, ich fühle mich verstanden.
    Scherblingen, sagte Percy.
    Innozenz: Herr von Kahlau, mir ist jede Scherbe heilig.
    Percy: Wir Laienschauspieler!
    Aber im Welttheater, sagte Innozenz plötzlich ganz ruhig, im Welttheater, Percy. Die ganze Welt in der Wissenssklaverei. Und der Professor befreit sie, die ganze Welt. Sie will befreit werden. Es wird der letzte noch

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