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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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standen Sie auf den Stufen des Neuen Schlosses und redeten. Sie brauchten Papiere, um daraus zu zitieren. Ich stand nur eine Stufe unter Ihnen, nahm Ihnen das Mikrophon ab, Sie begriffen, dass ich begriffen hatte, was jetzt nötig war, Sie nahmen mir das Mikro erst wieder ab, als Sie Ihre Rede beendet hatten. Als Sie mir das Mikro abnahmen, drückten Sie durch einen Blick und die dazugehörende Kopfbewegung aus, dass Sie es zu schätzen wussten, wie ich mich hatte nützlich machen wollen.
    Keine Angst, ich kann, was ich Ihnen schreiben muss, nur schreiben, weil ich nicht weiß, ob ich Ihnen den Brief je schicken werde. Eher nicht, glaub ich. Wohin auch?!
    Also. Ich glaube, ich bin eine Arbeiterin. Ob es bei mir jeweils Freude sein kann oder nur Trauer, das hängt von den anderen ab. Alle bestimmen mein Leben. Sie, zum Beispiel. Seit einem ganzen Monat schon. Und was ich längst fertig gedacht habe, was ich eigentlich in der halben Stunde nach dem Aufwachen schreiben wollte, das lebte, das muss ich jetzt durch das Schreiben wieder zurückholen, damit Sie es lesen könnten und, wenn Sie es läsen, mich verstünden. Weil Verstandenwerden mein Lieblingswunsch ist. Seit fünf Jahren muss ich fürchten, dass mein Mann mich umbringen will. Er sagt immer, er habe das Töten gelernt, Augenaushebeln, Handkantenschläge, und wenn er noch einmal jemanden umbrächte, dann mich. An dem Tag, an dem ich tot wäre, hat er letzten Samstag gesagt, könnte er das erste Mal wieder lachen. Dann rannte er hinaus, weil der Schnaps fehlte. Ich, in Todesangst, fuhr mit dem Taxi zu Frau Dr. Gern, meiner Ärztin, sagte, ich wolle mich umbringen aus Angst, sie solle mich gleich ins Bürgerhospital einweisen. Sie telefonierte, ich fuhr mit dem Taxi hin. Vier Tage war ich dort, hatte immer noch diese Angst vor Männern. Im Bürgerhospital sind Männer und Frauen zusammen auf einer Station. Leider. Rief meinen Mann an. Er weigerte sich, mir meine Sachen zu bringen. Als ich allein im Zimmer war, versuchte ich, mich aufzuhängen, stürzte ab, war ohnmächtig, hatte mir einen Fuß gebrochen. Sie brachten mich ins Feuerbacher Krankenhaus, ich kriegte einen Gips, lag da acht Tage, dann kam der Oberarzt aus dem Bürgerhospital, weil ich nicht dahin zurückwollte. Mein Mann hatte mich jeden Tag besucht. Ich hatte keine Angst mehr vor ihm. Frau Dr. Gern gab mir Tabletten. Ich wollte dann nicht mehr lesen, kein Buch, keine Zeitung, nicht ausgehen, nicht nähen, keine Kleider von Breuninger tragen, mir war alles egal, und das Rauchen habe ich auch wieder angefangen, eine Schachtel pro Tag. So war ich meinem Mann am liebsten. Ich bin jetzt eine gute Hausfrau, rede nicht mit mir selber, habe keine Wahnvorstellungen. Einen Pfarrer habe ich auch kennengelernt. Ich habe in der Kirche um meine Liebe geweint, er sah das, kam hinter mir her, gab mir seine Adresse, ich schrieb ihm gleich einen Brief, und schon läutet es an der Glastür, und er steht draußen. Ich zeigte ihm mein Tagebuch, er meinte, ich sei eine Mystikerin, ich weiß bis heute nicht, was das ist, dann sagte er noch, und infantil sei ich auch. Darum bin ich doch zu Ihrer Demonstration am Neuen Schloss gegangen. Infantil! Ich! Horváth, Die Unbekannte aus der Seine, da bin ich auch hin. War superlangweilig. Dreizehn Mark fünfzig hat es gekostet. Geschichten aus dem Wienerwald war viel unterhaltsamer. Ich habe alle Stücke von Horváth gelesen, auch die Fragmente. Er hat ja nicht viel schreiben können, das mit dem Ast in Paris, das wissen Sie sicher. Aber Sie wissen sicher nicht, woher ich Miró kenne. Von Henry Miller. Es gibt ein Büchlein von ihm: Das kleine Lächeln (des Clowns) am Fuße der Leiter. mit Bildern von Miró. Die kann man auch selber malen. Aber dann ist es kein Miró! Das Wort Spaß ärgert mich immer. Ich möchte wissen, wo es herkommt, aus welcher Sprache. Ist es rein deutsch? Sie wissen das sicher.
    Ich fürchte, jetzt habe ich Ihnen alles erzählt, ich weiß nichts mehr, es war wie eine Therapie! Vielen Dank. Wenn Sie alles gelesen haben, Herr Kainz. Dass mich mein Mann verprügelt hat, weil ich Ihnen das Mikro gehalten habe, können Sie ruhig wissen. Ich bereue es nicht, Ihnen das Mikro gehalten zu haben. Nur dass Sie’s wissen. Ohne Sie kann ich keine Ohrringe tragen. Gestern habe ich sie mir ausgesucht. Zwanzig Mark. Halb Negerin, halb Zigeunerin. Tragen kann ich sie natürlich nicht. Ich mach mich doch nicht lächerlich, und wenn, dann nur Ihretwegen. Sie haben mich, als

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