Muttersohn
Ich hasse Sie, verabscheue Sie. Sie fehlen mir wie noch nie. Wenn mir noch ein Mann begegnete, der mich lieben könnte, möchte ich es Ihnen schreiben dürfen.
Nur dass Sie’s wissen. Ich habe Sie zerstört. Sie werden sterben. Aus Nächstenliebe. Sie werden an Ihrer Menschlichkeit zugrunde gehen. Ich weiß, wovon ich rede. Sie mit Ihrer sozialen Ader. Ich war mit einem Nazischwein verheiratet. Das war lebensgefährlich. Aber ehrlicher als alles andere in der Welt. Der konnte nicht lügen. Überhaupt nicht. Und Sie? Ich habe Sie erniedrigt. Sie spießiger Sozialist, Sie.
Nur dass Sie’s wissen. Der unterdrückte Teil in uns ist erst das, was uns zu Menschen macht. Wagen Sie es, uns zu befreien! Ich arbeite jetzt in einem Krankenhaus. Mein geschiedener Mann wohnt wieder bei mir. Er will, dass wir wieder heiraten. Angeblich ist seine Arbeit der Grund, warum er zu Hause so revoltiert. Er muss es, sagt er, an einem Menschen rauslassen, der von ihm abhängig ist. Er ist von seiner Mutter erzogen worden. Sein Bauchnabel ist heute noch tabu für ihn, weil seine Mutter ihm das beigebracht hat. Er will, schwört er, nur noch jedes zweite Wochenende trinken. Und was er schwört, hält er.
Nur dass Sie’s wissen. Meine Verzweiflung stammt aus meiner Zudringlichkeit Ihnen gegenüber. Manchmal komm ich mir vor wie eine Horváth-Figur. Ich kann Freund und Feind nicht unterscheiden. Wie sollte ich auch? Nur Kapital schafft Unabhängigkeit. Und Kapital habe ich nicht. Ich bin besitzlos und will es bleiben. Gestern kam die Kündigung dieser Wohnung. Mein Mann gab mir die Schuld und betrank sich. Ich habe das Radio zerschlagen. Ein neues werde ich mir nicht mehr leisten. Hätte ich wieder ein Radio, würde ich wieder glauben, man höre und sehe mich. Wir gehen wieder auseinander. Ich habe mich einmal stark gefühlt. Es fehlt mir wohl das Geistige. Hat der Herr Pfarrer auch gesagt. All dies Aufbäumen meiner Lebenskraft ist ins Leere verlaufen, ins Aus. Ich werde versuchen, das Vegetieren zu lernen.
Nur dass Sie’s wissen. Ich will mit Ihnen zusammen sein, jetzt. Für eine Stunde oder mehrere. Dann vielleicht, sicher sogar, nie mehr. Könnten Sie nicht mal mit einer Art Dienstmädchen zusammen sein? Spüren Sie meine Verzweiflung nicht? Seit Jahren. Sicher war es auch eine Lebenshilfe. So gesehen ist es für mich nur richtig, dass Sie leben und da sind, damit soll ich zufrieden sein. Vom Verstand und Gemüt her, ja. Aber Blut und Fleisch gehören auch zum Menschen. Was erwarte ich? Geliebt zu werden? Sie haben vielleicht einen höheren Moralbegriff. Wenn ich schön wäre und jung, begehrenswert als Frau, dann hätte ich mehr Berechtigung zu sagen: Ich liebe … Dann hätte ich etwas zu bieten. Meine Verzweiflung, mein Leben und der Spiegel haben mir bewiesen, dass ich, was ich sein möchte, nicht bin. Sie sind das Ziel meiner Ungeduld. Ich gehe in die Kirche. Dann gehe ich ins Bad und mache mir mit dem warmen Wasserstrahl einen Orgasmus. Dass das so heißt, weiß ich von Frau Dr. Gern.
Nur dass Sie’s wissen. Ich brauche sowieso zwei Männer oder drei, mit denen ich leben möchte. Zeitweise. Ich finde nichts Verwerfliches dabei, ehrlich zu sein. Die Zeit ist noch nicht so weit, dass es so was für mich geben könnte. Ich komme nicht mit Männern zusammen, die mir gefallen. Die mich wollen, die will ich nicht. So war es schon immer. Eines Tages werde ich auch Sie vergessen haben, ohne Sie gekannt zu haben. Es wird alles nicht gewesen sein. In meiner Erinnerung.
Nur dass Sie’s wissen. Mir geht es gut, sehr gut. Auf dem Nachhauseweg fuhr ein Auto an mir vorbei, darin saß ein Mann, der blitzschnell so aussah wie Sie. Wie Sie aussehen müssen. Jetzt. Im Frühling. Ohne Pelzmütze. Das hat mir so gut getan, dass ich mich fast schäme, je verzweifelt gewesen zu sein. Es gibt Sie ja. Sie leben noch. Irgendwo. Und was brauche ich mehr! Und manchmal sind Sie also wieder in Stuttgart. Tatsächlich hat mein Mann, der wieder weg ist, mit mir über Sie gesprochen. Nüchtern. Nüchtern hat er gesagt, entweder seien Sie unheimlich naiv oder ziemlich dumm. Politisch, meint er. Wer politisch heute noch links sei, sei fast nicht mehr zu bedauern. Er meint, ich müsse froh sein, dass Sie von mir nichts wissen wollen. Das habe ich eingesehen. Aber dann dieses Auto. Darin Sie. Jetzt sehe ich Sie überall. In jedem Auto. Es genügt mir, dieses blitzschnelle Vorbeifahren des Autos mit dem Mann, der aussah wie Sie. Danke schön, dass Sie
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