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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Klassenkampfes, dann lässt man, um das nachzuweisen, ganz von selbst weg, was stören würde. Genau so bei der sogenannten Aufklärung. Kant hat’s gesagt, dass die Vernunft nur sich selber begreift. Sonst nichts. Einen schönen Gruß an den Herrn Präsidenten. Und Konsorten. O ja! Und Konsorten! Gnadenhalber Hilfsschullehrer in Isny, Krankenstellvertreter überall zwischen Gammertingen und Wangen. Und merkte ein Interesse für Hängengebliebene. Also in Weingarten Sonderschul-Pädagogik studiert. Am Ende nur noch in Sonderschulen, die sich schmeicheln durften, Förderschulen zu sein. Zum zweiten Mal Masern. Mit peinlichen Folgen. Dann das Stottern. Als ich kein Schulhaus mehr betreten konnte, war die letzte Ausbildung fällig geworden: Fahrlehrer. Nur für Motorrad. Endlich ein Erfolg. Überbelegt meine Kurse in Uhldingen. Sicherheitstraining wurde meine Spezialität. Aber auf meine Stimme war kein Verlass. Auf dem Übungsplatz in Uhldingen und bei den Lehrfahrten draußen war ich Herr der Situation und der Herr meiner Stimme. Abends in den Theoriestunden stotterte ich mich schlecht und recht durch. Das ging auch nur, weil ich bei jedem Kurs vor der ersten Stunde sagte, meine Stimme leiste sich manchmal Fehlzündungen. Es wurde gegrinst. Ich grinste mit. Ich sagte: Wenn’s euch nicht stört, stört’s mich auch nicht. Dann merkte ich die Lüge und sagte: Stimmt nicht. Mich stört’s schon. Aber euch soll’s nicht stören.
    Dann in der Schwäbischen Zeitung, die ich beim Friseur immer gründlich durchblätterte, weil ich das Gefühl hatte, ich müsse mehr über diese Gegend erfahren, ein Artikel: Das spanische Königspaar sei im Schloss Altshausen bei der Königlichen Hoheit zu Besuch. Die Königliche Hoheit, das war der Herzog von Württemberg, hatte eine Tochter zu verheiraten, der spanische König sollte eine feierliche Rede halten und konnte nicht. Seine Stimme war weg. Am Abend vor dem Fest! Die Panik erreichte das Personal. Das Personal wusste Bescheid. In Amtzell die berühmte Chorleiterin und Logopädin, Frau Elsa Frommknecht. Sie wurde geholt und gab dem König seine Stimme wieder. Das Honorar sei fürstlich gewesen. Amtzell also. Da brauste ich hin. Jeder im Ort wusste, wo sie wohnt. Auf dem Kapellenberg.
    Ich war als Einspringer zwischen Biberach und Wangen und Singen längst auf dem Motorrad gelandet. Aber die Straße hinauf, zu der hierherum berühmten Logopädin, fuhr ich so langsam, so leise, so sanft wie möglich. Zum Glück ist das Haus das letzte und weitab von der Straße. Ich wollte nicht gleich als Motorradfahrer erkannt sein. Die Gartentür war kein Problem. Ein von Blumen gesäumter Treppenweg noch ganz hinauf. Droben ein Holzhaus mit Anbau, drei Birken, eine Tanne. Im Näherkommen war es ein Schindelhaus. Auch der flachere Anbau war geschindelt. Die Schindeln des Hauses waren schon grau, silbergrau, der Anbau noch leuchtend rotbraun. Also das Haus dreißig Jahre alt, der Anbau zehn, schätzte ich. Als gelernter Schreiner, der ein Jahr bei einem Zimmermann gearbeitet hat. Im Anbau drei Türen. Eine offen. Ich blieb stehen. Sie sollte meinetwegen nicht aufhören, Klavier zu spielen. Ich würde stehen bleiben, egal wie lange sie spielte. Aber vielleicht war es überhaupt ihr Mann, der da spielte. Ich habe in Tübingen selber Klavier gelernt. Nachher, in der politisch missglückenden Lehrerlaufbahn, war ich mit Musik-AGs wirklich erfolgreich.
    Ich näherte mich der offenen Tür so, dass ich von drinnen nicht gesehen werden konnte.
    Oft kenne ich eine Musik, ohne dass ich sagen kann, wie sie heißt. So ging es mir hier. Dann passierte das erste Malheur. Ich weinte. Es war nichts zu machen. Dieser Kapellenberg, weit hinaus, ein grünes Auf und Ab, ein Hügel friedlich-runder als der andere, bis zum Horizont, der seinerseits unter blauem Himmel blaues Gebirge bot. Vielleicht war es mein nicht gelingen wollendes Leben, das mir durch dieses Klavierspiel vorgeführt wurde. Hoffentlich kam, wer da spielte, jetzt nicht heraus. Und hoffentlich spielte da eine Frau. Bis sie herauskam – und zum Glück war es eine SIE  –, hatte ich von mir Fassung verlangt. Ich musste aber trotzdem fragen, wie die gerade gespielte Musik heiße. Es seien das sechste und das neunte Präludium gewesen, aus dem Wohltemperierten Klavier. Ich nickte. Und gestand gleich, dass ich für Musik, die ich kenne, oft den Namen nicht wisse. Sie schüttelte ein bisschen den Kopf, was wohl heißen sollte, dass sie das nicht

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