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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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sind. Das wäre grotesk. Das kommt nicht vor. Auch Augustin hat viel zu erzählen, von Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden, von Karthago über Rom nach Mailand, aber das erzählt er uns nur, um uns erleben zu lassen, wie er jetzt ist, gerade jetzt, im Augenblick des Schreibens seiner Erinnerungen. Die allerdings heißen nicht Memoiren, sondern Bekenntnisse. Und Bekenntnisse kennen keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur den Augenblick, in dem sie ausgedrückt werden. So weit würde ich es gern bringen.
    (Das Publikum stimmt zu.)
    Es tut mir leid, Fred, wenn du in dem, was ich da sage, etwas deine Vorbereitung, eure Recherchen Schmälerndes entdeckst. Das will ich überhaupt nicht. Ich will nur sein, wie ich möglicherweise bin. Beziehungsweise: jetzt gerade bin.
    Fred: Prima, Percy, ich fühle mich durch dich kein bisschen geschmälert. Du enthältst für mich null Vorschrift, im Gegenteil: Du bist die größte Lizenz, der ich je begegnet bin. Du bist ein Freiraumschaffer ersten Ranges.
    (Das Publikum stimmt zu.)
    Percy: Das liegt weniger an mir als an deiner Lebensbereitschaft.
    Fred: Jetzt musst du mich aber auch nehmen, wie du mich hingekriegt hast.
    Percy: Ich fühle mich schon verantwortlich.
    Fred: Bist du gelegentlich geil?
    Percy: Ununterbrochen.
    (Das Publikum lacht und klatscht.)
    Fred: Mir fällt ein Stein vom Herzen.
    Percy: Ich hab ihn poltern hören.
    Fred: Weißt du, dass da bei dir kein Mann beteiligt gewesen sein soll, das klingt doch ein bisschen lebensfeindlich?
    Percy: Wichtig ist doch, was herauskommt, nicht, wie es hineinkommt.
    (Das Publikum lacht.)
    Fred: Also du bist gelegentlich geil, also …
    Percy: Fred, verzeih, dass ich dir dreinrede …
    Fred: Ich bitte dich darum.
    Percy: Also, schau, ich will ein Beispiel nehmen. Die Erschaffung der Welt. Egal, wie wir uns diese sechs Schöpfungstage nachträglich vorstellen, am siebten Tag ruhte der Schöpfer. Der Zeuger. Der Erzeuger von allem. Für mich ist das ein Ausdruck für Geilheit und Erguss. Gott war geil, also hat er die Welt geschaffen, dann geruht.
    Susi: Und diesmal war keine Frau nötig.
    Percy: Wie recht sie hat, Fred.
    Susi: Dann war es Selbstbefriedigung.
    Percy: Bravo, Susi.
    Fred: Darf ich weiterfragen?
    Percy: Du musst.
    Fred: Find ich auch. Also, Beziehungen zu Frauen gibt es? Darüber haben wir nämlich nichts herausgefunden. Du lebst also keusch.
    Percy: Keusch sein heißt geil sein.
    Fred: Könnte man sagen: geil an sich?
    Percy: Letzte Woche im Zug. München–Salzburg. Wenn ich eingeladen werde, fahr ich Zug. Die zahlen immer 1. Klasse. Ich soll bei Salzburg auf einem edlen Hof mit Leuten reden, die mit mir reden wollen. Und sitz’ im Abteil einer Frau gegenüber, die kann fünfundzwanzig sein oder sechsunddreißig. Zweireihige Samtjacke, schwarz, mit orangefarbenen Nadelstreifen, vier Ringe an der Linken und vier Ringe an einem Finger der rechten Hand und trotz riesiger Lippen ein unschließbarer Mund. Farbe: überreife Himbeeren. Die wollen ja dann lieber violett sein als rot. Haare natürlich auch so ein verdorbenes Rot. Kein Gepäck. Ein Schirm. Extrarot. Schwarze Stiefel. Rein violetter Rock. Schaut manchmal auf aus ihrem Journal. Da sitze ich ihr genau gegenüber. Aus schwarz geschminkten Augen schaut sie, ob ich appetitlich sei. In Rosenheim steigt sie aus, unter der Tür dreht sie sich noch einmal um und sagt: Auf Wiederschaun. Das klingt so vorwurfsvoll, dass ich sofort weiß: Ich habe etwas falsch gemacht. Aber da hat ja schon die deutlich drei Jahre Ältere Platz genommen. Wenn du am Fenster sitzt, sitzt dir jede genau gegenüber. Bevor ich sie recht wahrnehme, sehe ich, wir sind ja noch in Rosenheim, im Zug auf dem Nebengleis, die langmähnigste Blondine das Fenster hochschiebend, dadurch rutscht der Pullover und gibt ihren nackten Bauch frei, plus Nabel. Aber diesem Anblick fahren wir zum Glück davon. Sodass ich ganz der vielfach durchbrochenen Bluse gegenüber bin, die zwei Knöpfe weit offen ist. Und auf der rechten Brust, von mir aus gesehen, prangt richtig eine rosarote Blumentätowierung. Nichts Grauenhaftes. Ein allerliebstes Blumenstillleben auf einer wunderbar ansteigenden Brust. Hilfesuchend lenke ich meinen Blick hinauf in das Gesicht über der Blumenstilllebenbrust. Von den Ohren bis zu den Fingern alles Gold. Zum Glück ging das so weiter. Eine stach die andere aus. Noch vor Salzburg.
    Fred: Es gibt, glaube ich, eine Geschichte, da verhungert ein Esel zwischen zwei Heubündeln.
    Percy:

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