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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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hauchen. Töne einer Melodie, die man kennt. Schlager, Oper, egal. Einfach eine Melodie, die man mit la-ha-la-ha-la-ha zerhauchen kann. So langsam wie möglich. Nach der zweiten Woche sagte sie, sie könne versuchen, mir zu helfen. Jetzt immer dreitägig. Immer Samstag, Sonntag, Montag. Nach zwei Monaten wollte sie meine Geschichte hören. Meine Stottergeschichte. Und ich sollte sie ihr lallend, die Wörter in Hauchsilben verwandelnd, erzählen. So langsam wie möglich. Ein Sprechgesang. Ein Singsang. Der musste so oft wiederholt werden, bis er nirgends mehr anstieß. Von den Quälereien im Heim bis zu den Behandlungen mit Kortison und Antibiotika lallte ich meine Stimmbandbiographie. Ich musste kein Wort scheuen, vor keinem Wort Angst haben, weil jedes Wort, schon bevor es drankam, eingebettet war in den langsamen Singsang und in die Silben aus Hauch. Zuletzt – nach wie vielen Wochen? – sollte ich mich auf einer Trommel begleiten. Mit den Händen. Auf einer afrikanischen Trommel. Den Singsang mit einem Dauerwirbel begleiten. Zwei Wochen lang. Von Bezahlung wollte sie nichts hören, bevor ich meiner Stimme sicher sei. Oder wenigstens sicherer als vorher.
    Ich war ihr doch längst verfallen. Als die Möwenfedern anfingen, mir zuzunicken, wenn ich den Atem kommen ließ, und genau so nickten, wenn ich ihn gehen ließ, musste ich manchmal so lachen, dass sich die Federn schüttelten. Dann lachte sie auch.
    Aber wie verfallen ich ihr war, ließ ich nicht merken. Es war, wie wenn ich mit dem Motorrad eine schwierige kurvenreiche Strecke im Gebirge zum ersten Mal fuhr. Du genießt deine Konzentration. Du kannst nichts falsch machen. Und in jeder Kurve erlebst du, wie richtig du alles machst. In der Kurvenstrecke würdest du, wenn du etwas falsch machst, abschmieren, bei der Logopädin würde alles, was an Gelingen erlebbar war, in einer blöden Privatgeschichte kaputtgehen. Eine Art Ehrgeiz erlebte ich. Bei ihr und bei mir. Wir waren ein Artistenpaar. Kein Kuschelpärchen. Das sind wir erst geworden, als sie mir sagte, ich sei so weit. Deine Stimme wird dir gehorchen, wenn du deiner Stimme gehorchst. Sie könne vorerst nichts mehr für mich tun. Da wusste ich, dass es mir gelungen war, meine Empfindungen vor ihr zu verbergen. Ich gebe zu, dass ich darauf stolz war. Das konnte ich ihr jetzt sagen, weil das, was sie mit mir, an mir geleistet hatte – ja, geleistet –, uns in eine Hochstimmung versetzte. Wir waren beide so glücklich, als hätten wir mit einander einen Viertausender bestiegen. Und ich war fähig, ihr jetzt sozusagen alles zu gestehen. Auch dass ich Liebe beziehungsweise die dazugehörenden Verrichtungen bisher nur als bezahlten Dienst gekannt hatte, weil die Angst vor dem Stottern am grellsten war, wenn ich eine Frau ansprechen wollte. Eine Frau für mich einnehmen wollen, und dann geht das Gegackse los, der Mund krampft sich sinnlos ab, du siehst, wie die Frau halb amüsiert, halb mitleidig grinst. Aus!
    Und jetzt das. Die Stimme. Und die Frau!
    Mir muss zugutegekommen sein, dass Elsa gerade verlassen worden war. Von einem Mann, dem nichts übelzunehmen sei. Aus Dresden. Nicht direkt, aber ungefähr. Adalbert von Rauch.
    Sooft sie diesen Namen aussprach, spürte ich, dass sie diesen Namen gern aussprach. Sogar Berti kam oft genug vor. Erinnerungszärtlichkeit durch zwei Namensilben. Dabei hatte der, der so hieß, ihr jede Art Schaden zugefügt. Aber der Name beherrschte sie. Adalbert von Rauch, Berti. Nie verächtlich oder bitter oder zornig, obwohl dieser Herr ihr übel genug mitgespielt hatte. Ja, aus einem Elbschlösschen stammte er, waren die Eltern vertrieben worden. Das Regime hatte das Schlösschen zerfallen lassen. Jetzt hätte er’s wieder haben können. Aber er will nicht sein Leben vergeuden damit, dass er eine Fast-Ruine vor dem Totalruin rettet. Er hat drüben noch das Klavierstimmen gelernt, ist dann so schnell es ging dort weg, landet in Ravensburg bei einer Cousine, etabliert sich als Klavierstimmer und -händler. Elsa bestellt ihn ins Haus, er findet ihren Flügel schrottreif, er beschafft einen neuen, zwar gebraucht, aber er klingt verführerisch schön. Bevor sie alle Raten bezahlt hat, ist Adalbert von Rauch ihr Freund, ihr Mann, ihre Lebensaufgabe. Er spielt lieber Klavier, als dass er Klaviere stimmt. Ein langhaariger Schlaks, eine elende DDR -Kindheit, ein nicht gelebtes Leben, eine gestaute Gier. Er macht Schulden, und als die nicht mehr zu verbergen sind, haut er ab.

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