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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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begreife. Dann sagte ich noch, ich sei froh, dass es eine Frau sei, die da gespielt habe. Das verstand sie besser. Sie sagte sogar, sie wundere sich manchmal, dass Männer sich überhaupt ans Klavier trauten. Lachte aber gleich so, dass ich verstehen sollte: Diesen Übermutsausbruch vergessen wir sofort wieder. Einen Blick hat sie. Das glaubt man nicht, dass eine Frau aussieht wie ein Volkslied. Der Blick! Ist das jetzt Schmerz, Weh, Sehnsucht oder einfach zu viel Freundlichkeit? Oder einfach Schutzlosigkeit? Dazu der Mund, zwei Lippen, die beide gleich groß sein wollen. Ein Lippenaltar. Über den eine feine Nase wacht. Ausschwingend das Gesicht im beträchtlichen Kinn.
    Es war klar, dass ich mich zuerst für das Motorrad entschuldigen musste.
    Warum denn das, sagte sie.
    Weil ich nicht sicher war, ob meine Stimme nicht gleich streiken würde, deutete ich hin und sagte: Ich stottere. Darum komme ich.
    Sie sagte: Wenn es sonst nichts ist. Bitte.
    Und ging zurück ins Atelier, das sie Studio nennt, ging durch das Atelier in den Praxisraum der Logopädin. Darin fiel am meisten auf das hellblaue Sofa. Darauf sollte ich Platz nehmen. Liegend. Sie sagte, meine Geschichte könne ich ihr später erzählen, zuerst wolle sie mich genauer kennenlernen.
    Ob ich bereit sei, die Motorradkluft auszuziehen. Ich war bereit. Dann lag ich in Oberhemd und Turnhose auf ihrem Sofa. Sie holte ein Brettchen, in dem steckten neben einander mehrere Vogelfedern. Weiße. Von einer Möwe. Das Brettchen legte sie mir auf den Bauch, dann sollte ich atmen. Ich atmete, wie ich immer atme. Sie beobachtete mich und die Federn. Irgendwann sagte sie: Danke. Dann machte sie mich nach. Zeigte mir, wie ich atme. Ob ich gesehen hätte, die Federn, bewegungslos. Und zeigte mir, wie ich atmen sollte. Ich hoch, sie hin, sich das Brettchen aufgelegt, atmete, die Federn atmeten mit. Und sagte mir, wohin ich in mir beim Einatmen kommen sollte. Was alles ich in mir beim Einatmen erreichen und beim Ausatmen mitnehmen sollte. Bevor sie mit mir irgendetwas anfangen könne, müsse ich atmen lernen.
    Meine oberflächliche Art zu atmen grenze ans Japsen. Das richtige Atmen müsse ich selber üben, bis der Atem ohne alles Zutun von selbst komme und gehe.
    Sie war ohne weiteres per Du mit mir, aber das ohne jede private Bedeutung. Du musst mit beiden Füßen den Boden spüren, auf dem du stehst. Du musst deine Schwere erleben. Empfinden. Genießen. Dass du so schwer bist, ist eine Erfahrung.
    Zweimal acht Tage, sagte sie. Nach zwei Wochen sehe sie, ob sie mir helfen könne. Ihre Termine, meine Termine, dann gab sie mir die Hand und sagte: Adieu.
    Ich sagte noch: Schön, hier. Und zeigte nach oben, wo statt einer platten Decke die Dachbalken schräg nach oben führten. Mit der Übertreibung, dass ich gelernter Zimmermann sei, erklärte ich mein Interesse am Balkenwerk.
    Aber jetzt bist du Fahrlehrer, sagte sie, weil sie das bei unseren Termin-Abstimmungen erfahren hatte.
    Motorrad, sagte ich, weil ich das vorher nicht gesagt hatte.
    Oh, sagte sie, aber sie lachte dazu.
    Ich ging den blumengesäumten Weg hinab, drehte mich, um die Gartentür zuzumachen, noch einmal um, sah hinauf, sie stand, sah mir zu, sie wollte offenbar sicher sein, dass ich ging. Ich fuhr im Leerlauf bergab, erst als ich im Ort war, drückte ich den Anlasser.
    Ich war bezaubert. Verzaubert. Ich fuhr nicht heim, sondern machte im nächsten Wald Station und atmete. Atmete so lang, bis ich mir einbildete, der Atem gehe selber tief in mich hinein und verlasse mich dann von selbst, wie er gekommen war. Ich wusste, dass ich diese ganze Atmerei nur ihretwegen machte. Kein Ziel, kein Zweck, nur sie.
    Als ich zur ersten Woche hinauffuhr, fühlte ich mich gut vorbereitet. Ich lag, sie stand. Wie sie im Stehen atmete, das war eine Kraftübertragung. Mühelos machte ich alles nach. Ich hatte das Gefühl, sie beatme mich. Sie stellte mir wieder das Brettchen mit den Möwenfedern auf den Bauch und beobachtete, wie die Federn auf mein Atmen reagierten. Allmählich reagierten sie ganz schön. Dann wurden Wörter in Hauchsilben verwandelt und das in einem eintönigen Singsang. Dann ganze Sätze. Di-hie-We-helt-wi-hird-je-heden-Ta-hag-no-hoch-schö-höner-da-has-muhuss-ma-han-spü-hüren-spü-hüren-a-halles-wa-has-ma-han-spü-hüren-ka-hann-i-hist-schö-hön-schö-hön-schö-hön.
    Das lallte sie, ich lallte es nach. Nur nirgends anstoßen, auf Luftpolstern gleiten lassen. In der zweiten Woche dasselbe mit Musik. Töne

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