Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
noch ein eigenständig denkender und handelnder Mensch! Hört sich ja so an, als wolltest du mich entmündigen …«
Gott, bewahre! Dann müsste ja jemand anders meinen Job übernehmen! Ein Betreuer für Muddi? Wo sollte ich den denn finden? Und wenn ich einen fände, was müsste ich ihm dann im Gegenzug für seine Dienste anbieten?
An manchen Tagen bin ich schneller als sie und stecke in Windeseile eine Euromünze in das Wagenschloss. Das enttäuschte Gesicht, mit dem sie die verlorenen Minuten aufgeregten Herumkramens quittiert, sollte ich mal mit meinem Handy filmen und bei YouTube reinsetzen. Ich bin mir sicher: Millionen von Töchtern würden diesen Link anklicken und mich auf einen Schlag reich und berühmt machen.
Nun rollen wir den Einkaufswagen zum Eingang. Wie jede Woche regt sich Muddi über den Hubbel auf, den die »Leute vom Kaufmarkt« immer noch nicht ordnungsgemäß beseitigt haben. Jeden Donnerstag muss sie über diesen Hubbel fahren – extrem anstrengend ist das! Aber die Kundschaft ist denen ja völlig egal! Da geben sie einen Dreck drauf! Die Kunden bringen denen ihren Milliardenumsatz. Trotzdem haben sie es nicht nötig, den Hubbel zu entfernen!
Genau das hat Muddi dann auch vor drei Wochen dem netten Wagenschieber auf dem Parkplatz gesagt. Der junge Mann war so höflich oder dickfellig, dass er die Beschwerden meiner Mutter mit unverwüstlichem Lächeln und Nicken hinnahm.
»Laura«, sagt Muddi in Erinnerung daran, »das ist wirklich eine bodenlose Frechheit, dass die den Hubbel noch immer nicht weggemacht haben! Dabei hab ich es doch neulich extra noch diesem netten jungen Mann gesagt! Freundlich war er ja, aber er hat bestimmt die ganze Zeit gedacht: Was will die Olle von mir? … Ach Laura, mir hört ja sowieso keiner mehr zu!«
Nachdem der Hubbel überwunden ist, bleibt Muddi im Eingangsbereich des Supermarktes stehen und bewundert – wie jede Woche – das Blumenmeer im Schaufenster des Franchise-Pflanzengeschäfts, das sich hier eingemietet hat. Versonnen kommentiert sie: »Hach, ich könnte das einfach alles kaufen!« Aber wie jede Woche kauft sie auch heute nichts.
Am Mister-Minit-Stand erzählt sie mir im Flüsterton, dass der hiesige »Mister« unglaublich unhöflich und vorlaut sei. Mein Vater hätte ihn deshalb bei jedem Einkauf ganz besonders freundlich gegrüßt, um ihm zu zeigen, wie unmöglich er sich verhielt. »Er hat versucht, dem Mann mit einem Lächeln die Flausen auszutreiben«, sagt sie triumphierend.
Als wir schließlich im Einkaufsbereich des Supermarktes ankommen, beginnt meine eigentliche Leidenszeit. Ich frage mich jede Woche aufs Neue, wie dieses Buch hieß, das uns moderne Menschen dazu aufforderte, in unserem hektischen Leben einen Gang runterzuschalten. Eine solche Verlangsamung, so die These, würde uns so manchen Herzinfarkt, einen fünften Schlaganfall oder eventuell auch die allseits gefürchtete Schuppenflechte ersparen … Einer der Sätze, die mir besonders im Gedächtnis hängen geblieben sind, lautete: »Ruht deine Seele, so ruhen deine Haut, dein Herz und auch deine Adern!«
Muddi muss die Langsamkeit nicht mehr für sich entdecken, zumindest nicht beim Einkaufen. In dieser Kunst ist sie eine Meisterin, eine wahrhafte Göttin.
»Laura, ich geh schon mal zu den Zeitschriften, dann muss ich nachher nicht so lange nach den Heften suchen!«
Jede Woche sagt sie das, und stets versuche ich, einen tieferen Sinn in ihren Worten zu entdecken: Ob nun jetzt oder später – wo ist da der Unterschied? Sie wird auf jeden Fall eine gefühlte halbe Stunde lang sämtliche Zeitschriften, die sie optisch ansprechen, in die Hand nehmen. Die ersten zwanzig Hefte legt sie dann nach längerem Betrachten und Überfliegen der ersten zehn Seiten kopfschüttelnd und mit einem seltsam entsetzten Gesichtsausdruck wieder ins Regal zurück. Und zuletzt entscheidet sie sich genau für die Blätter, die sie ohnehin jede Woche kauft: Frau aktuell , Tina , BILD der Frau . Das war’s.
Na ja, nicht ganz. Manchmal wählt sie außerdem ein elitäres Homes and Gardens -Magazin aus, das sie mir erst einmal leiht. Ich bringe es ihr dann später zurück.
Seit Längerem schon lese ich diese Zeitschriften allerdings gar nicht mehr, denn ich habe im Laufe der letzten zwanzig Jahre in regelmäßigen Abständen so viele ähnliche Magazine von ihr bekommen, dass ich weiß: Es lohnt sich nicht, Zeit mit der Lektüre zu verschwenden. Die Texte und Bilder gleichen sich stets. Ein in
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