Myrddin
Fell hatte ihn über die Jahrhunderte begleitet, doch jetzt fiel ihm auf, wie sich Orte verändern konnten und wie bedeutungslos sie eigentlich waren. Seine Grotte konnte von einem Herzog heimgesucht werden und vielleicht noch von ganz anderen Menschen, die nur ihre Namen nicht in dem Stein verewigt hatten. Seine damalige Zuflucht war zu einem Freudenhaus verkommen, in der sich die tumbe Menschheit amüsieren konnte, solange er auf Nordkvaloy gewesen war. Und nun wäre seine Höhle auf der Insel der Menschenlust ebenso ausgeliefert. Es waren wohl nicht der Hart Fell und seine Grotte, nach denen er sich gesehnt hatte, sondern er war es selbst, zu dem er zurück wollte. Er hatte unantastbare Visionen gehabt. Er wußte, wann Trim Castle gebaut werden würde, und hatte gesehen, daß Richard II. von England den Thron besteigen würde. Er hatte die große Hungersnot in Irland gesehen, die die Bevölkerung um die Hälfte dezimierte. Er kannte die Heinrichs, die Irland geschunden und unterworfen hatten – und fand, daß er sich auch Heinrich Myrddin hätte nennen können, denn hatte nicht unter Heinrich VIII. der Verfall der Klöster begonnen?
Der Hart Fell jedenfalls war schön wie damals, auch wenn alle Orte dieser Welt zu Freudenhäuser werden konnten. Wichtig waren die Weltzentren und nicht die Aufenthaltsorte Myrddins während seiner langen Odyssee. Wichtig waren die axis mundi und einzig bedeutend unter ihnen Stonehenge, Uisnech und Woodhenge. Und er war ein Diener seines Glaubens, der heute seine Bewährungen überstanden haben sollte und der seinen Glauben tragen durfte, solange er lebte. Er hatte die Gabe des Sehens, hatte magische Kräfte und lachte über die Esoteriker und Propheten dieser Welt. Er spürte die klare Luft seiner Anhöhe und den unbändigen Drang seines stürzenden Wassers. Flechten hatten sich an den Felsen geklammert, und er war nur mit seinem Buch und seinem Eschenstab gekommen, wollte auf Hörn, seine Wölfe und die Vanyar warten und … und auf die Gwyllons, die ihn sein Leben sehen lassen wollten.
Kaum das er angekommen war, freute er sich schon wieder auf seine weitere Wanderung, und der Hart Fell war nur noch ein zu Fels gewordener Stein. Er war ein guter Teil des langen Lebensweges für Myrddin, der ihn leiden und fühlen ließ. Wären die Erinnerungen an Vivien schönere gewesen als an eine verlogene, falsche Falle ihrer Selbstliebe, wären manche Jahre leichter ertragen worden, dachte er und spürte seinen großen Appetit auf frisches Obst.
Rotkehlchen, denen er früher in den Wäldern begegnet war, hatte er nicht gesehen. Dafür hatte er seine Lerche gehört und er ging wieder in seine Grotte, nahm einen Schluck Wasser und dachte nur noch daran, auf seine Freunde warten zu wollen. Die Zeit schien ihm länger zu werden, und er wußte, daß es seine innere Ungeduld war, die in trieb. Wie lange würde er warten müssen, damit sich sein Leben erfüllte? Und wie oft hatte er schon darüber nachgedacht? Einige Male hatte er bereits gesehen, daß er nach Guivienen gehen werde, und er hatte sich in die Anderswelt gesehnt. Er hatte an den Brunnen gestanden und in die Unterwelt geweint. Er hatte sich ob seiner Menschlichkeit verflucht und war kräftiger geworden, als er es sich selbst eingestand.
Myrddin spürte seine Kraft nur in den wenigen Augenblicken, da er auf Menschen getroffen war. Und das war wohl wissentlich sehr selten geschehen. Wozu hatte er die Jahre sehen können, und weshalb besaß er seine übernatürlichen Fähigkeiten? Die Menschheit hatte daran keinen Anteil. Sie besaß einen anderen Glauben. Sie hatten sich Maximen erdacht, die einen Glauben unter bestimmten Voraussetzungen duldeten. Sie waren Fanatiker, die Fanatiker anderen Glaubens nicht akzeptierten, und der Glaube an sich war seiner religiösen Betrachtung der Erd- und Menschheitsgeschichte entstiegen. Er hatte sich zu einem Instrument sozialer Machtpolitik und existentieller Staatsgewalt entwickelt. Und wollte Myrddin das wirklich erleben müssen?
Sein Wesen und seine Betrachtungen waren völlig andere. Er fand weder an der Menschheit Gefallen noch an sich selbst oder irgendeiner Zeit – und am wenigstens an der, in der er gelebt hatte. Das Geschäft der Macht war ihm zu profan, weil er selbst Macht besaß, aber kein Interesse mehr an Krisen hatte, die ihm zu durchsichtig waren. Und die Menschheit steckte in einer ihrer tiefsten Krisen, was Myrddin wußte, weil ihnen die gewollte Macht den Streich gespielt hatte,
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