Myrddin
das ihm als Decke diente, und seinen winddichten Schlupfanorak aus Rentierfell mit einer großen Kragenkapuze. Das waren seine zwei wertvollen Felle, die er in einer Truhe im hinteren Teil der Höhle aufbewahrt hatte. Er hatte auch eine Fellmütze, auf die er jedoch verzichten wollte. Dafür legte er seine dicken Robbenhandschuhe bereit. Mit unbeschreiblicher Bedachtsamkeit nahm er schließlich sein wertvolles Buch, umschlug es zweifach mit gefettetem Schweinsleder, band es mit einem Strick zusammen, legte es wieder auf den Tisch und besah sich seine Höhle, in der die Schätze seiner Jahrhunderte herumlagen und wahrscheinlich zurückbleiben mußten, wie er befürchtete. Merlin nahm seinen Eschenstab, und ihm wurde schwer und wehmütig ums Herz.
Hörn, der ihn mit hängenden Augenlidern im Eingang der Höhle stehen sah, kam zu ihm und stellte sich dicht neben ihn.
„Nichts von alledem gehört uns, Merlin. Wir haben es sehen und brauchen dürfen. Wir haben die Dinge erlernen können. Und damit haben sie bereits ihren Sinn für uns erfüllt. Die Möbel brauchtest du. Deshalb haben wir sie von der Küste hier heraufgeschleppt. Die Bücher hast du gelesen und die vielen Requisiten werden dir schöne Erinnerungen geben. Du kennst ihren Geruch und ihre Form, hast sie verinnerlicht. Aber sie werden in dieser Welt bleiben. Wir können uns nur von den Dingen trennen, die uns wirklich gehören, Merlin. Und was uns gehört, das sind nur wir uns selbst … und uns nehmen wir mit. Woher also kommt deine Wehmut? Und woher deine Trauer?“
„Ich habe mich an alles gewöhnt, Hörn. Mein Herz ist gespalten und ich habe Angst vor den Menschen bekommen … eine jahrtausendwährende Angst, die wieder in mir aufsteigt und mich lähmt. Das ist eigentlich der Grund. Die Frage, die sich mir stellt, ist, was ich noch in der Welt verloren habe.“
„Verloren hast du nichts, Merlin. Du hast der Welt etwas geliehen. Du hast ihr einen Glauben geborgt und ihn bis heute nicht zurückgefordert. Und die Zeichen dieses Glaubens werden wir holen … so jedenfalls verstehe ich, was du gesagt hast. Wir werden erfahren, was du sehen wirst. Und solange lege ich mein Leben in deine Hände. Gehe also bitte sorgsam damit um und verschwende keinen Gedanken an einen lächerlichen Verlust. Wahrhaft wird sein, was wir tun. Und wirklich sind unsere Spuren, die wir hinterlassen. Am besten ruhst du dich jetzt aus, denn morgen werden wir aufbrechen“, sagte Hörn beruhigend zu dem Zauberer, legte sich ein letztes Mal auf das Felsplateau, sog die betäubende Stille ein und wartete auf die Wölfe, die die letzte Fracht zu dem Boot gebracht hatte.
Die Nacht erschien in ihrem schönsten Schein. Der Mond wurde kräftiger und das gelbe Licht erstickte die Bedenken eines ungewissen Morgens.
V
Merlin hatte sich auf seinem Nachtlager ausgestreckt, die Lichter an den Wänden gelöscht und ließ nur über dem Tisch die blaue, springende Flamme der Alkoholschale brenne. Das Licht huschte über den Felsen, über den Boden, flackerte über die Trockenkräuterbündel und schlich in sich zurück.
Der Seher lag mit offenen Augen auf dem Rücken, hatte die Arme unter den Kopf gelegt und streckte sich seit langer Zeit wieder unter seiner glatten Seeotterdecke. Er riskierte keinen Blick mehr auf den Boden seiner Höhle und wehrte sich gegen die Gedanken, die ihm die Mühe und das Trübsal der vergangenen Jahrhunderte hätten vorführen können. Er vergaß die klugen Griechen, die er nicht kennengelernt hatte, und vergaß die enormen Geister der Gegenwart – einer Gegenwart, die er nicht kannte, von der ihm nur zugetragen worden war. Seit langem schon hörte er nicht mehr die Stimmen von Hugin und Munin, den blauschwarzen Raben Odins.
Merlins Sinn zerstob in dem Kosmos, verfing sich in dem astronomischen Netz eines Kopernikus, befreite sich jedoch wieder wie ein Falter aus einem Spinnengewebe und gaukelte in die Anderswelt. Er wurde wieder von den Zauberhainen verführt und von dem Einerlei harmonischer Gleichförmigkeit aufgesogen. Er brauchte selten Schlaf, und wenn er seine Augen schloß, so blieb doch ein guter Teil seines Verstandes stets gegenwärtig. Dennoch schlief er in dieser Nacht tief und traumlos.
Hörn und die Wölfe lagen vor der Höhle. Die Grauwölfe hatten weiße Masken, bereift von den eisigen Temperaturen, weich wie der Bast eines jungen Geweihs. Hörn lag friedlich zwischen ihnen, zufrieden mit den Tagen, zufrieden auch mit Merlin, der ihm in den
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