Myrddin
schmerzen konnten und wie es war, Elche zu jagen, Mäuse, Hasen und Fische zu fangen. Er kannte das Leben und trug die Verantwortung für sein ganzes Rudel. Und nur ein einziger Fehler seinerseits hätte unüberschaubare Folgen für seine gesamte Familie bedeutet: Verfolgung, Rastlosigkeit, Hunger, Tod. Und zuletzt hätten nur wenige überlebt, die ihn dann ihrerseits verstoßen würden. Doch wußte der alte Merlin all das? Er hatte sich um die Wölfe verdient gemacht, sie vor den Menschen geschützt und versteckt, doch war ihm das Ausmaß seines Unternehmens diesmal wirklich klar? Vielleicht war er ein mächtiger Seher und Zauberer, aber was gab ihm gleichzeitig das Verantwortungsbewußtsein eines wahren Rudelführers? Und konnte er die Dinge, die er sah, wirklich verstehen und ermessen? Woher konnte er sie von Trugbildern unterscheiden? Melchor leckte sich die Tatzen und wußte, wie der Schmerz schmecken würde, sollten sie sich auf den Weg machen, und es schien Merlin damit ernst zu sein. Der Grauwolf kannte die Überwindung nach den ersten hundert Kilometern. Und er kannte die Qual jedes weiteren Schrittes, bis man nicht mehr zu laufen meinte, sich verzehrt hatte und in einen tranceartigen Trab fiel, der einen zu einer leichten Beute für jeden Jäger machte, da dann der eigene Verstand zwischen den Welten weilte. Waren es nicht nur die Hirngespinste eines einsamen Menschen, der ein Abenteuer auf Kosten seiner ergebenen Freunde suchte und dabei die Freundschaft ausnutzte? Melchor wußte es nicht. Und er wußte auch nicht, ob er sein gegebenes Wort für Merlin bereuen sollte.
Merlin drehte sich vorsichtig zu ihm um, fuhr mit der Hand über Melchors Lefzen und sagte: „Ich habe Verständnis für deine Bedenken. Aber mache dir keine Sorgen, mein guter Melchor. Ich werde euch zu führen und zu schützen wissen.“
Melchor erschrak wegen seiner düsteren Gedanken und fühlte sich bei seinen Zweifeln ertappt. Merlin hatte seine Gedanken offenbar erraten. Oder war es vielleicht mehr als bloßes Erraten? Oder sprach der Zauberer nur zufällig? Er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, und begann vor Unbehagen zu winseln.
„Es ist schon gut. Wir leben, um zu sehen, und erfahren, um zu lernen, Melchor. Ich mißtraue dir nicht und räume dir ein Recht auf jeden deiner Zweifel ein. Wunderlicher wäre, hättest du als Wolf keine Bedenken. Du bist ein guter Führer und mir ein wahrer Freund. Und wenn wir uns gegenseitig helfen, können wir jede Last tragen, die fortan auf unseren Schultern liegen wird“, sagte Merlin verständnisvoll.
„So soll es sein, o Merlin“, antwortete der Grauwolf, konnte sich seiner Zweifel aber nicht erwehren.
Merlin begann emsig in der Höhle zu wirtschaften, sein Inventar in das Nötige und Unnötige zu sortieren, wie er es genannt hatte, doch verlor er sich alsbald in Einzelheiten, die ihn nicht zum gewünschten Ziel kommen lassen wollten. Wenn er anfangs vorsichtig und behutsam seine Kostbarkeiten in die Hände nahm und, sie betrachtend, ihren persönlichen Wert wog, bevor er sie zurückstellte, wühlte er alsbald in den Schätzen seiner Welt. Es waren Andenken an Freunde, Geschenke früherer Pilger und Gönner, Geschmeide von Mächtigen und Königen. Man hatte ihm, in ehrenvollen Diensten stehend, Gefäße und Behälter aus seltenen Edelmetallen gefertigt und schwere Siegelringe mit geschmiedeten Ornamenten versehen. All das galt es für Merlin zu verstauen. Diese Schätze wollte er nicht entbehren.
Seiner Bibliothek konnte er nicht Herr werden, warf Blicke auf Bücher unterschiedlichster Herkunft, auf die Annalen der Naturwissenschaften, die er verfeinert hatte, und den Almanach der Weltgeschichte, in dem Kapitel aller Herrscherhäuser ganz Europas für ihn eine unglaubliche Bedeutung besaßen. Mit wieviel Geduld hatte er Einzelheiten hinzugefügt, die er selbst gesehen hatte oder die ihm zu Ohren gekommen waren. Es waren die Totenbücher aller Kulturen, von denen er sich nicht trennen konnte. Zumeist hatte er sie aus den geplatzten Bäuchen gestrandeter Schiffe geholt. Den Schiffsunglücken in den tosenden Brandungen des Nordatlantiks verdankte er auch seine behaglichen Möbel – und je weiter seine Gedanken in die Vergangenheit griffen, desto heilloser wurde das Durcheinander in seiner Höhle, denn als er das, was er das Nötigste nannte, aus den Regalen nahm und in die Mitte des Raumes legte, stapelte es sich zuerst und ließ sich dann bald nur noch wackelig immer höher
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