Myrddin
auftürmen. Man konnte jetzt sehen, daß seine Bücher in den Regalen aus Platzmangel zwei- und dreireihig voreinandergestellt waren. In der Tiefe der Regale kamen älteste Handschriften, mythische Zeichnungen, ein der Wirklichkeit der Welt enthobener Wissensschatz hervor, die die Grundlage all seiner Betrachtungen und Gegenwart seiner Einsiedelei waren. Je mehr Merlin angeblich sortierte, desto weniger bewältigte er das entstehende Chaos.
Die Wölfe machten sich auf den Weg, als der Seher vor sich hinzureden begann. Sie wollten zu Hörn, Pacis und Carus und wollten dem Menschen Zeit geben.
„Eine ganze Karawane könnte ich bestücken, ein ganzes Schiff befrachten … und was habe ich? HAMAMELIS, eine Nußschale, einen Hirsch und fünf Wölfe. Wie nur soll ich meine Schätze packen und transportieren? Sollte ich noch große Schlitten zimmern müssen und vor jeden einen Wolf spannen? Sind sie deshalb gekommen? Aber wahrscheinlich würde sie sich in dieser Weise auch von mir nicht gängeln lassen.“ Merlin erinnerte sich an die Umstände, die ihn in diese Lage gebracht hatten, und er versuchte sich zwischen den unermeßlichen Schätzen eines Zauberers zu entscheiden, der Jahrhunderte hindurch gesammelt hatte. Jedoch hatte er für seine Entscheidung weder den nötigen Abstand zu den Dingen noch den erforderlichen Überblick. Ärger machte sich in ihm breit. Der Ärger eines alten Mannes, der aus seinem Garten umgesiedelt werden sollte, dessen gewachsene Wurzeln aus der Erde gerissen werden sollten und der selbst – anstatt als Eiche zwischen zwei Apfelbäumen stehend, den Duft genießend und die Sperlinge liebend, die zankend und streitend einfielen – aus diesem Mutterboden gerissen, auf einer Schutthalde gepflanzt, weiterwachsen sollte.
Merlin raufte sich die Haare und kam nicht weiter. Um ihn herum lag ein großer Teil seiner Habe ausgebreitet auf dem Boden, und er konnte sich nicht entscheiden. Er suchte nach Richtlinien oder einem möglichen Konzept. Wie hatte Blaise von Northumberland, sein großer Zaubererfreund, sich und seine Umgebung früher geordnet? Worauf hatte er sich beschränkt? Und was galt seiner besonderen Aufmerksamkeit? Es fiel Merlin nicht mehr ein. Er konnte sich noch an das scharfe Gesicht von Blaise erinnern, an seine stechend hellen Augen und die buschigen Augenbrauen … doch wie er gelebt hatte, hatte Merlin vergessen.
„Blaise hat sich mir aus dem Gedächtnis gestohlen …“, dachte Merlin. „Er hat es geschafft …“ Und seine geliebte Vivien? Sie hatte bescheiden auf der Insel gelebt, umgeben von Priesterinnen und Gebräuen, von Kräutern und … natürlich von Nahrungsmitteln, kam es ihm in den Sinn. Er mußte Vorräte mitnehmen. Er würde ein zweites Schiff für Vorräte brauchen, die er aus einem kleinen Garten hinter dem Felsen im Herbst geerntet hatte oder die ihm von den Tieren gebracht worden waren. Vivien, die ihn enttäuscht hatte und von der er sich Jahrhunderte hindurch betrogen fühlte – der Zorn auf sie war nur allmählich durch die Güte Hörns verschwunden, sie hatte nicht gesammelt wie er. Zu ihrer Zeit war sie nicht darauf angewiesen. Damals konnte man das Wissen in der Lebendigkeit der Zeit teilen, konnte es bedenkenlos austauschen und an die nachfolgenden Generationen weiterreichen. Vivien, die kleine, gebieterische Frau, der alle Verführungskünste bekannt waren, die von der ergebenen Geliebten zu einer allmächtigen Herrscherin werden konnte – zur Verkörperung der Mutter Erde, die die Fäden des alten Glaubens spann, Vivien – wo war sie nur? Eingegangen in die Anderswelt …?
Sie waren gemeinsam zu Pferde gereist, und hatten sie damals Gepäck? Jedenfalls hatten sie keine Bücher. Doch Merlin brauchte sie heute und hatte sie teils selbst verfaßt. Was würde mit seinen Gedichten geschehen? Wieviel Bände waren es …?
Er saß verzweifelt auf dem Steinboden seiner Höhle und wußte nicht mehr, wo er anfangen sollte, mit seinen Gedanken überall, nur nicht bei der Abreise.
Stunden jähen Ringens hatte er erfolglos verbracht, als Hörn und die Grauwölfe gutgelaunt von Rebbenesoy zurückkamen. Merlin nahm sie nicht wahr, saß immer noch mit verschränkten Beinen auf dem Boden, als der letzte Tagesschimmer schon langsam in die lange Dunkelheit der nordischen Nacht tauchte und Hörn in die Höhle blickte.
„Merlin, was hast du angerichtet?“ rief er besorgt, als er das Durcheinander sah.
Wie aus einem Traum erwachte der Zauberer. „Ach Hörn,
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