Myrddin
letzten Jahren zunehmend menschlicher erschienen war. Früher hatte er andere Kräfte besessen. Er schien ihm heute weichere, anfälligere Züge bekommen zu haben, obwohl er immer noch bedrohlich und angsteinflößend werden konnte. Viele Jahrzehnte waren vergangen, in den Merlin Ruhe vor den Gwyllons gehabt hatte, manchmal das Gesicht bekam und die Welt in ihren Ankern sah, ziellos treidelnd im Raum unermeßlicher Welten, eines noch unfaßbareren Universums. Und lange schon hatte Merlin weder von Nimue geträumt noch Eriu, die allumschließende Mutter Erde, angerufen. Die Reise nach Britannien bekümmerte Hörn weniger. Er freute sich sogar auf das Aufsuchen altbekannter Stätten und dachte im gleichen Atemzug an den Hart Fell, den unheimlichen Zufluchtsort von Merlin im Coed Celyddon, wie sie ihn damals nannten … dem Hart Fell von Dumfriesshire. Merlin war für Hörn einerseits sehr gut bekannt und durchschaubar, vielleicht sogar berechenbar, falls man einen Zauberer überhaupt berechnen konnte. Andererseits konnte sich Merlin jederzeit von allen je beschriebenen Konventionen augenblicklich lösen. Er stellte einen vor Rätsel, von denen man meinte, daß er sie auch lösen könnte, weil er sie stellte. Doch genau das tat er dann nicht. Er brachte Überraschungen und vergnügte sich mit kindischen Spielereien, obwohl er ein gelehrter Seher war. Tagelang hatte er auf dem Rücken Hörns durch die Moore Schottlands reiten können, von Mücken und Feuchtigkeit gequält, ohne die mindeste Klage – und ein anderes Mal wäre eine einzelne Fliege Anlaß gewesen, das große Unrecht, das ihm diese Welt angetan hatte, in die Winde hinauszuschreien, sämtliche Fliegen jener Breiten verdammend, und das bewußte Insekt zu erschlagen.
Hörn lag und blickte zu den Wölfen, die sich ihrer Zusage merklich unwohl fühlten. Das Verhalten Merlins hatte sie irritiert. Trotzdem standen sie zu dem gegebenen Wort Melchors, das sie erst in diese mißliche Lage gebracht hatte. Sie sollten einen für Wölfe zumindest geistig umstrittenen Wunderling bis an die Grenzen Skandinaviens begleiten und diesen Wicht auch noch als Führer anerkennen? Weshalb sollten sie dieses Risiko auf sich nehmen? Die guten Zeiten Merlins schienen sich von ihm abgewendet zu haben und sein Verstand hatte seinem hohen Alter Tribut zollen müssen.
Höflich machte Pacis eine Art Andeutung, die Hörn einen Einblick in die Gedanken der Wölfe gewährte. Pacis sprach von einem großen Zauberer – als sei Merlin gewesen und schon nicht mehr unter ihnen, von großer Dankbarkeit und Ehrfurcht. Doch er sprach auch von der Gegenwart, dem strengen Winter, der eigenen Familie und einem ungewissen Vorhaben, dem ein kluger, starker Führer vorstehen sollte. Und offensichtlichere Zweifel kamen von Carus, der sich Merlin ganz anders vorgestellt hatte. Man fragte Hörn ganz offen, wie er das Unternehmen einschätzen würde, wäre Merlin der Anführer und übergäbe man ihm allein die beträchtliche Verantwortung. Immerhin sei er auch nur ein Mensch und könne die Interessen der Wölfe gar nicht genug kennen.
Hörn mußte nachdenken, blickte sich zu dem Höhleneingang um, sah durch einen Schlitz Merlin ruhig schlafend und überlegte, was er den Wölfen sagen könnte.
„Seht, Freunde, Merlin und ihr seid verschieden“, sagte er, doch wollte zu keiner großen Reden ausholen. „Ich vertraue Merlin. Ihr seid wundervolle Jäger, habt blitzende, ungetrübte Augen, tragt einen Instinkt in euch und hattet bisher, dank eures Geschickes, die Kraft zu überleben. Bisher waren wir immer ehrlich zueinander und ich möchte, daß dies so bleibt. Bevor ihr Merlin und mich halbherzig in die Ungewißheit begleitet, kehrt zurück zu eurem Rudel und jagt mit ihm. Arrangiert euch mit eurer Welt und erzählt die Geschichte eines Mannes, die in euch lebt. Viel mehr kann ich nicht sagen. Merlin ist mein Freund. Ja … er ist mehr als das: er ist mein Meister und ein Leben ohne ihn ist nicht denkbar. Das ist aber keine Verpflichtung für euch, liebe Freunde.“
„Darum geht es nicht, Hörn. Können wir ihm die Führung anvertrauen … das ist die Frage, die mich beschäftigt. Er kennt Wege, die er vor vielen Jahrhunderten gelaufen sein mag. Doch findet er sich in der Gegenwart zurecht?“ fragte Carus deutlicher, der Merlin zum ersten Mal begegnet war.
„Carus … und hört mir alle zu, denn dies sage ich euch nur einmal. Merlin ist zu Unglaublichem fähig. Gewöhnlich neigt man dazu, ihn eher
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