Myrddin
diese Erlebnisse in den sagenumwobenen Bergen in einem Leben unbedeutsam gewesen, jedenfalls für ihn. Und das Volk …? Es hatte durchaus die Erkenntnis gewonnen, er müsse ein besonderer Seher sein, und er log ihnen Bilder vor, die in Wirklichkeit nicht waren. So unterstütze er ihren Glauben und beschrieb ihnen Geschichten, die ihnen gefielen, da sie die wahren Erlebnisse nicht verstanden hätten, weil sie ihnen keine eigentliche Bedeutung zumessen würden. Und wollten sie von Wahn besessene Seher sehen, so rannten manche Betrüger eben wie von Höllenqualen getrieben durch die Menge von Sensationslustigen und das Volk wußte: O England, ein Seher ist geboren … und ein Zauber getan …
Ein Sack mit Kräutern löste sich in Merlins Boot, wurde vom Sturm gepackt, hochgehoben und fortgetrieben. Merlin bemerkte es, ließ den Strick fallen und rannte dem rollend windgetriebenen Sack hinterher. Im selben Moment, als er den Strick der HAMAMELIS losgelassen hatte, wurde auch das Boot vom Wind erfaßt, da es herrenlos auf dem Eis lag. Und der Sturm schob es Merlin hinterher. Das Boot kippte auf die Seite und die restlichen Säcke wurden auseinandergetrieben. Noch nicht einmal den ersten Sack konnte Merlin greifen, als ihn die anderen bereits überholten. Er vermochte nur noch weiteren Schaden zu begrenzen, indem er griff, was in seine Nähe kam. Und das waren ein Beutel mit Trockenobst und ein zweiter voller Brot. Alles andere mußte er verloren geben.
Gegen den Wind stemmte er sich zurück. Seinen Eschenstab hatte er nicht aus den Händen gelassen und er diente ihm selbst auf dem Eis als vortreffliche Stütze. Manchmal war sein Stab seine Lebenshilfe, und wenn es überhaupt einen praktischen Zauber gab, dann sicher nur in ihm. Dennoch war der Weg gegen den Wind zurück zu seinem Boot für ihn als alten Mann, bepackt mit zwei Säcken, die sich aus seiner Hand befreien wollten, anstrengend.
Als er beim Boot ankam und es langsam auf dem Eis vom Wind geschoben sah, waren ihm sein Buch und drei Säcke geblieben. HAMAMELIS war umgestürzt und schabte ihm auf dem Eis entgegen. Seine Seeotterfelle waren verloren, wahrscheinlich ein Gespiel für den Sturm geworden, den unerbittlichen Westwind, der seine Vogelmädchen entließ und gleich vielen anderen ungebetenen Gästen kam.
Merlin hätte sich nicht in seine Gedanken verfangen dürfen, doch hätte er es nicht getan, wäre der Gram des Alleinseins über ihn gekommen, der schwerer zu tragen gewesen wäre als die Säcke mit den Nahrungsmitteln. Sehr schmerzlich empfand er den Verlust seiner Decke, da ihm kalt war. Ob der Wind nur mit seiner Luft peitschen wollte oder ob es Schnee geben sollte, wußte Merlin nicht. Eigentlich war die eisige Kälte vergangen, meinte er.
Er roch die Cardigan Bay, er roch das Salz und fühlte Salzwasser auf der Haut. Sehen konnte er nicht das Geringste. Es war dunkel geworden und die Ebene, in der er stand, war schwarz wie der Himmel über ihm und das Eis unter seinen Füßen.
Merlin dachte daran, seinen Kristall aus dem Beutel zu holen, und freute sich über ihn wie über einen Freund in der Fremde. Es war für ihn ein Kleinod, der größte denkbare Schatz – ein Stück eigenen Gartens, da in ihm das ewige Polarlicht leuchtete, sobald er ihn aus dem Lederbeutel holte. Es kamen ihm Erinnerungen an Leif Eriksson, den großen Seefahrer und Entdecker, mit dem er zweimal auf großer Fahrt gewesen war. Sie hatten Stürme auf offener See erlebt, die kaum jemand für wahr gehalten hätte, der nicht mit dabeigewesen war. Und er dachte, daß Leif es dem Roten Erik hätte gleichtun sollen, der damals von den Priestern nichts wissen wollte, während Leif sich am Hofe des Olav Tryggvason zum Christenglauben hatte bekehren lassen. Es war eine Schwäche gewesen, wie Merlin es immer empfunden hatte, wenn er an Eriksson dachte, da sie sich beide gerne mochten und gut vertragen hatten. Leifs Seele hätte nicht erleuchtet werden müssen – sie leuchtete schon vorher, falls es etwas wie eine Seele gab, von der die Christen gesprochen hatten. Sie waren schon freundliche Wesen. Aber weshalb hatten sie soviel Idiotie und Unfrieden in die Welt gebracht?
Merlin holte seinen Kristall aus dem feuchten Beutel und spürte erst dann, daß auch sein Fell naß war. Es hatte keinen Regen gegeben – aber es war kalt. Seine Empfindungen für die Temperaturen mußten sich über die Jahrhunderte verändert haben, denn es war ihm kälter als zu Zeiten, da er mit Hörn und den
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