Myrddin
beweint werden. Sie hassen die Andersartigkeit und sind selbst das schizogene Produkt eigener Andersartigkeit.
Merlin fürchtete sich vor einer Begegnung mit dem Menschen, da er ihm gegenüber in sich gespalten war. Er fürchtete, den Menschen gegenüber wieder schwach zu werden und sie sein zu lassen, wie sie anders nicht sein können. Waren es nicht immer die Dummen, die gesagt hatten, daß der Klügere nachgäbe? Und wollte er sich abermals von ihnen verraten lassen?
Er dachte an Nimue, an seine Vivien – wie hatte er sie geliebt, seine Aufgaben für sie vernachlässigt und sich ihr geöffnet … als Seher, als Mensch und als Zauberer … als Eingeweihter und als Mann. Er wußte natürlich auch, daß ältere Männer die Jugend mit Erfahrung und Naschwerk lockten, was auch er getan hatte. Aber wie hatte sie ihn dafür verhöhnt und verraten! Was Frauen Männern für Schmerzen zufügen konnten, würde sie niemals erfahren können. Wie sie ihn verspottete und seine aufrichtige Liebe in den Schlamm gezogen hatte. Wie er durch sie zur öffentlichen Belustigung in ganz Britannien geworden war. Was sie ihm damit für Qualen bereitet hatte, würde Vivien nicht mehr erfahren.
Es kommt wohl auch vor, das Männer Frauen Schmerzen zufügen, die diese nicht verstehen und nicht überwinden. Doch Nimue, seine schicksalhafte Liebe, hatte ihn als Menschen, Mann, Freund und Tutor betrogen. Wäre Hörn nicht gewesen, hätte er in seiner Kränkung die Menschheit verflucht, Unfruchtbarkeit über die Geschlechter bringen wollen, auf daß sie die Lust und Leidenschaft aneinander verloren hätten. Die Wikinger hatten besser gelebt. Und wäre Nimue mit ihm unter den Nordmännern gewesen, hätte er es leichter gehabt. Er hätte sie genommen, wann es ihm beliebte. Sein Anstand als Seher hatte es ihm in Britannien verboten und die Ehre als Hofart, die er Vivien zuteilwerden lassen wollte, gestattete es ihm nicht. Aus diesen Gründen konnte sie ihn verletzen und hatte ihn selbstsüchtig ausgenutzt. Er hatte es bedauert, nicht beizeiten die Rohheit der Nordmänner besessen zu haben. Dafür hatte er sich in Klagen und Jammern ergangen. Nur die langen Jahre mit Hörn hatten ihm geholfen. Auch jetzt, da er nur an Nimue dachte, empfand er noch den Schmerz unter dem Stein, als sie ihn bannte und als feines, arrogantes Fräulein vom See davonritt, dem der alte Mann nicht genügte, und ihn gebraucht und mißhandelt verließ. Sie hatte sich eingebildet, über sein Schicksal gebieten zu können. Vielleicht war dies die gemeinste Kränkung für Merlin: sie hatte ihn verkannt.
Merlin jedenfalls hätte nichts mit Sicherheit sagen können, was in einer Beziehung zu Vivien stand, da er sich in vielem noch an die Begriffe und Erlebnisse erinnerte, doch seine wirklichen Empfindungen an die damalige Zeit verblaßt waren. Ihr Gesicht hätte er zeichnen können, doch das Lachen ihrer Augen bewirkte in ihm nichts mehr. Er hätte den Klang ihrer Stimme nicht mehr erkannt, obwohl er es zuweilen glaubte. Und war er jemals eifersüchtig gewesen? Nein. Er hätte ihr Freiheiten zugestanden, die er nur ihr gestattet hätte. Wäre sie Turgeis begegnet – er hätte sie seine Wildheit spüren lassen. Es hätte kaum ein Entrinnen für sie gegeben – und wenn, dann nur ein blutiges, ein fatales, und sie hätte es mit ihm treiben müssen wie das Vieh in den Ställen, dachte Merlin, als er den Wind spürte, der zu stürmen begann … und er wieder auf dem Eis dahinlief, aus seinen Gedanken gefallen den sechzigsten Breitengrad abschnitt, seine Nußschale hinter sich herzog und in die Menschenwelt wollte. Wollte er das wirklich? Er würde von den Gwyllons wahrscheinlich getrieben werden, wäre er nicht auf seinem Weg. Und wo waren die Elfen – jene Elfen, die kommen sollten? Würden sie wirklich kommen und noch rechtzeitig bei ihm sein? Rechtzeitig …? Rechtzeitig wofür? fragte er sich.
Merlin hatte gelernt. Er hatte den alten Glauben neu verstanden, ohne seine Inhalte im wesentlichen zu verändern. Er hatte Geschichtsbilder vor Augen, Menschenzeiten im Gedächtnis und wollte von dieser Welt. Er spürte, daß er auf dem Weg zu seiner schließlichen Ruhe war. Was hatten sie damals nicht unternommen, um Zeichen eines Glaubens zu setzen? Um die Macht der Götter zu zeigen? Und wie sehr hatten sie sich geirrt – alle hatten sich geirrt. Mit ihren Symbolen hatten sie sich nur selbstherrliche Denkmäler gesetzt. Wenn es jemanden gab, der die Bedeutung des Weltmittelpunktes
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