Myrddin
verstehen konnten oder aber nicht wahrhaben wollten. Welchen Unbill und welchen Zorn hätte er erfahren, würde er immer treu von der Wirklichkeit gesprochen haben, die er tatsächlich vorausgesehen hatte. Sie wollten Stonehenge … und sie hatten es bekommen, wenn es auch überflüssig gewesen war. Sie wollten die Schrift … und hatten Zeichen erhalten, was ihm als eine lächerliche Schulmeisterei erschien. Sie wollten Wissen … und hatten es bekommen. Das erschien ihm das Unnützeste zu sein, da man nur an Sonnen- und Regentagen durch die Wälder und über die Wiesen streifen, den Himmel betrachten und sich auf die Jahreszeitenwenden freuen mußte. Beltane. Auf die singenden Feldlerchen über Kornfeldern, die Bauern bestellt hatten, die ihr Korn selbst verkaufen durften, war immer Verlaß im Wissen.
Sie wollten Prophezeiungen und hatten Schlachten bekommen, in denen sie sich austoben konnten. Wozu hatte man Seher gebraucht und gesucht? Was war bloß an der Zukunft so Magisches, daß die Menschen es erfahren wollten? Wie ekelhaft waren meist die Gründe, die ein Vorhersagen angeblich bedurften? Wie hatten die Menschen Merlin angewidert, denen er Dinge verriet, die sie oft besser nicht wissen sollten, und was hätte er ihnen gesagt, hätten sie ihn über sich selbst befragt?
O, großer Seher, du Meister der Zeit … o großer Druide, was bin ich und was werde ich sein? Und was hätte Merlin darauf antworten sollen?
Mit dem nötigen Fanatismus, der Brutalität, der Mordgewalt deiner Schergen und der dir bekannten Grausamkeit kann der dumme Schlächter aus dir werden, der du sein willst – der inzüchtige Herrscher über Grabesstille in deinem Reich, mit Skeletten vor deinem Thron und Totenköpfen zu deinen Füßen. Und du bist und wirst nicht besser sein als deine mordenden Gevattern, die du erschlagen hast … hätte er ihnen sagen müssen. Verehrt wurde er, weil er eben dies nicht ausgesprochen und sich der kleinen, selbstverständlichen Bitte gefügt hatte, seine seherischen Qualitäten auf Dinge zu beschränken, die die Persönlichkeit des Fragenden nicht angriffen oder vielleicht sogar zerstören könnten, denn was wäre ein stotternder Herrscher ohne Selbstbewußtsein, dem seine Hermelinrobe ein Schlabberlatz gewesen wäre?
Auch Merlin war fragwürdige Kompromisse eingegangen und schließlich geflohen, weil er aus Leidenschaft und Überzeugung auf Seiten eines Verlierers gestanden hatte. Und war er bereit, dies zu korrigieren? War er aufgebrochen, um seine ehrliche Stimme zu erheben? Dann wäre es für ihn wohl zu spät gewesen. Die Dinge hatten sich verändert. Die Gegenwart war über die Generationen gestorben, nur hatte er sie überlebt. Es ging Merlin um seinen Glauben.
Hörn hatte recht gehabt. Merlin hatte sich zu tief in der Welt verstrickt, was ihm selbst zuweilen nicht klargeworden war. Er hatte Interessen von Menschen berücksichtigt, die ihn nicht betrafen, und war seiner Gabe nicht gerecht geworden. Dennoch unterwarf er sich seinen Fähigkeiten, hatte Schutz vor seinen Gegnern gebraucht und lodernde Zeichen an brennenden Himmeln gesehen.
Doch die Gefahr, in der er schwebte, war eine ganz andere. Sie schmeckte salzig und war um ihn herum. Sie schrie in sein Gesicht und hatte den scharfen Geruch der lauernden See – eines tückischen, flachen Meeres. Wenn er doch nur wüßte, was er tun könnte und was zu tun in seiner Lage klug wäre. Merlin fehlte jede Erfahrung eines Eiswanderers. Damals war er ein freier Reisender in der Welt gewesen. Nun war er zu einem zänkischen Eremiten geworden, der sich überheblich auf das Eis der Nordsee hinausgewagt hatte. Er war zu einem weltfremden Einsiedler geworden, der zu den Shetlands laufen wollte, weil ihm eine Landkarte das Versprechen gegeben hatte, daß man auf dem sechzigsten Breitengrad die Südspitze der Inseln erreichen würde.
Weshalb hatte Melchor die Gesellschaft nur auf das Eis geführt? Nein. Weshalb hatte er sich entschieden, zu den Shetlands zu laufen? Die Sprache erlernen …! Aber weshalb auf den Inseln? Weshalb hatte er kein Vertrauen zu den Engländern?
Zuerst müßte er jedoch auf seine Umgebung achten. Kaltes Wasser würde sein Blut in den Adern gefrieren lassen und Krämpfe würden ihn packen. Was Eisschollen nicht schaffen konnten, vollendete das eisige Wasser. Er würde ersticken. Seine Muskeln würden verkrampfen und er würde erlahmen.
Im Sturm verharrte Merlin. Das Eis war durch die Feuchtigkeit rutschig geworden, so daß er
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