Myrddin
ziehen können als seine HAMAMELIS, da es weniger Auflagepunkte besessen hätte und in diesem Sturm windschlüpfriger gewesen wäre. Die Feuchtigkeit in der Luft war fast zu Nebel geworden, aber er fror nicht mehr. Vielleicht war es den Temperaturschwankungen zuzuschreiben, daß er dennoch elendig zitterte. Aber er lief weiter. In das Eis einzubrechen wäre auch gefährlich für ihn gewesen. Warum hatte er nicht eine andere Route genommen oder sich auf den Vorschlag Melchors eingelassen? Wieso wollte er zu den Shetlands? Genauso hätte er mit Hörn und den Wölfen laufen können. Dann hätte er zudem lustige Gesellschaft gehabt. Wieso trieb es ihn zu den Shetlands und wie sollte er später nach Schottland kommen? Kein geringes Problem, an das er zuvor noch nicht gedacht hatte, gefangen nur von seinem Plan.
Wegen der Sprache, der neuen Worte, die er lernen wollte, mußte er zu den Inseln. So hatte er es Hörn gesagt. Doch die Route, die er gewählt hatte, schien ihm einen unmöglichen Marsch aufzuerlegen, und der Wind stürmte hart in sein faltiges Gesicht. Die Kapuze blieb nicht auf seinem Kopf. Sie wurde vom Sturm heruntergeblasen, der sich in ihr fing. Die Handschuhe hatte er ausgezogen und in seinen Taillengürtel gesteckt. Er schwitzte und fror gleichzeitig, als hätte er fiebrigen Schüttelfrost.
In seiner Linken hielt er den Eschenstab und leuchtete in die Dunkelheit, wie ein Glühwurm in der Unterwelt, in einem Tunnel der wachsenden Angst. Wo es Wasser gab, konnte kein Eis mehr sein. Und doch lief er auf dem Eis und schmeckte das Salzwasser auf seinen Lippen. Oder war es nur sein eigener salziger Schweiß, den er schmeckte? Merlin wußte es nicht mehr. Solle er sich in sein Boot setzen und auf den Tag warten? Am Tag könnte er wenigstens sehen, wohin er lief.
Packeis wäre lebensgefährlich, dachte er. Man kann zwischen die Eisschollen geraten, die dem Ertrinkenden den Schädel zerquetschen, noch bevor er Wasser atmen und versinken würde. Oder sie könnten ihn unter sich begraben – ihren Rachen öffnen, ihn einsaugen und dann die Eislippen wieder schließen. Was könnte er dagegen tun? Im Boot zu warten, falls das Eis unter seinem Kiel zerbrechen würde, wäre ebenfalls gefährlich. Schollen könnten wie scharfe Skalpelle die Holzhaut von HAMAMELIS auftrennen und es in einem Streich versenken. Und dabei war seine HAMAMELIS ein Drachenboot in kleinster Ausführung … Es war mit beiden Steven geeignet, an den Küsten anzulanden, wie es seine großen Vorbilder getan hatten. Hätte Merlin nur einen Antrieb für sein Boot gehabt – einen dieser schnellen Motoren, die die Menschen in das Wasser hielten und damit das Boot über die Oberfläche bewegten. Manchmal hatte er Fischer mit diesen Propellermotoren gesehen – eine von vielen nützlichen Techniken, die sie erfunden hatten, meinte er. Geschickt wie die Otter hätte er zwischen den Eisschollen manövrieren können. Doch die Maschine besaß er nicht und konnte sich nicht vorstellen, wie er sich richtig zu verhalten hatte.
Triefend und mit klatschnassen Haaren, die in seinen Nacken peitschten, stand er im Sturm. Was konnte er tun? Merlin, was ist aus dir geworden? rief er. Er hätte in den Sturm brüllen mögen, doch bändigen hätte er ihn nicht können, denn es war einer der mächtigen Winde, die keine Widerrede duldeten, wenn er die Harpyie ausführte. Und das Wasser …? Woher kam es nur? Und wo blieben die Elfen? Würden sie kommen wollen, hätten sie schon bei ihm sein müssen. Hörn … wo war er? Er hatte immer Ruhe ausgestrahlt und hätte dem Zauberer auch hier einen guten Gedanken geben können. Weshalb nur hatte er sich von den Tieren trennen müssen und nicht alles beim alten lassen können? Was wollten die Gwyllons noch von ihm? War er ihnen über die Jahrhunderte nicht genug zu Diensten gewesen? Warum konnten sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Und weshalb geboten sie ihm, eine Reise zu tun, die ihn in Bedrängnis brachte?
Wenn die Gwyllons dazu in der Lage gewesen waren, ihn in diese Not zu verstricken, wozu wären sie wohl noch in der Lage, hätten sie freie Hand mit ihm? In Zukunft müßte er den Geistern der Toten vorsichtiger begegnen. Doch hatten sie ihn jemals gefragt? Und hatten sie jemals auf Gefahren hingewiesen? Sie sprachen immerfort in ihren Rätseln, die Merlin zu entschlüsseln hatte, was ihn zu einem besonderen Seher machte.
Was hatte er nicht alles gewußt und den Menschen verschwiegen, da sie es entweder nicht
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