MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
Literaturgattungen gesprochen. Deshalb wusste er, dass die ersten Abenteuerromane und fantastischen Schriften etwa zur gleichen Zeit wie das Buch in seiner Hand erschienen waren. Ihre Verfasser waren längst vergessen und höchstens noch einigen wenigen Experten bekannt. Warum also sollte es ausgerechnet Frau Seikel besser ergangen sein? Trotzdem fand Niko es ziemlich leichtsinnig, dass der Ladenbesitzer das Buch einfach so im Regal vor sich hin stauben ließ. Aufgrund seines Alters - und noch dazu als Erstausgabe! - war es doch bestimmt einiges wert. Als er dann jedoch durch die Seiten blätterte, wurde ihm der Grund für diese Nachlässigkeit recht schnell klar: Ganz offensichtlich handelte es sich um einen Fehldruck. Der in einer altertümlichen Schrifttype gesetzte Text wies nämlich erhebliche Lücken auf. Es fehlten ganze Zeilen und gelegentlich sogar ganze Abschnitte. Was die Lektüre ziemlich erschwerte, wenn nicht sogar völlig unmöglich machte. Wer sollte den Inhalt denn verstehen, wenn so viele Wörter fehlten?
Niko zog eine Grimasse und wollte das Buch wieder zurücklegen, als ihm gerade noch das Zeichen in die Augen fiel, das auf der Vorderseite eingeprägt war. Seine Augen wurden groß: War das möglich? Mit einer raschen Handbewegung wischte er den Staub zur Seite und sah, dass er sich nicht getäuscht hatte.
D er See lag mitten im Wald. Es war angenehm kühl unter den hohen Bäumen, die das Gewässer ringsum bis dicht an die Ufer säumten. Alles war friedlich und still. Nur die Blätter in den ausladenden Kronen wisperten vor sich hin, als flüsterten sie sich leise Geschichten zu. Das Laub schimmerte in allen Schattierungen, vom hellsten bis zum dunkelsten Grün, und spiegelte sich auf der flirrenden und nahezu spiegelglatten Wasserfläche. Im schmalen Schilfgürtel am südlichen Ufer jagten sich die Libellen. Mücken schwirrten hier zwischen den Rohrkolben umher, und im flachen Wasser hockten träge und stumm einige Knarzkröten, schielten mit ihren großen Glubschaugen auf die Mücken und warteten darauf, dass sie sie mit ihren blitzschnell hervorschießenden Zungen fangen konnten. Dort, wo das Schilf endete, ragte ein kleiner Holzsteg in den See hinein. Mit leisem Plätschern brach sich das Wasser an seinen Stützpfosten.
Ayani hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Während sie mit den Holzeimern in den Händen über den schmalen Pfad näher kam, der sich zwischen den dicht stehenden Baumstämmen dahinschlängelte, hing sie ihren Gedanken nach. Die Worte der Mutter wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf. Hatte Maruna wirklich recht? War die alte Legende vom unbekannten Retter, der die Alwen aus der Knechtschaft befreien würde, mehr als ein bloßes Märchen? Entsprach sie tatsächlich der Wahrheit? Oder klammerte sich Maruna wie die meisten der Alwen nur an das Hoffnung machende Versprechen, weil ihr das Leben unter der Knute des fremden Tyrannen sonst unerträglich gewesen wäre?
Ayani hatte die guten alten Zeiten, denen die Alten nachtrauerten, niemals kennengelernt. Sie war nämlich genau in jenem unheilvollen Sommer geboren, in dem Rhogarr von Khelm seine Streitmacht unter dem Vorwand eines freundschaftlichen Besuches ins benachbarte Nivland geführt hatte und mithilfe eines feigen Verräters die angeblich so unbezwingbare Königsburg Helmenkroon erobert hatte. Ausgerechnet der Halbbruder von König Nelwyn, Herzog Dhrago, hatte heimlich mit dem machtlüsternen Rhogarr von Khelm paktiert und ihm zum Thron verholfen.
Ayani erinnerte sich natürlich auch nicht an das schreckliche Blutbad, das die marschmärkischen Krieger damals unter den Alwen angerichtet hatten. Gnadenlos metzelten sie Nelwyns Gefolgsleute dahin und übergaben jeden, der ihnen den Gehorsam verweigerte, dem Henker - vorausgesetzt, sie fanden nicht selbst Gefallen daran, ihn grausam zu Tode zu foltern. So jedenfalls berichteten es die alten Geschichten, die sich die Alwen an den Feuern und in den Hütten zuflüsterten - allerdings nur, wenn sie sicher sein konnten, dass sich keine Spitzel oder Parteigänger der Eindringlinge in ihren Reihen befanden. Denn ein falsches Wort in den falschen Ohren bedeutete noch immer den sicheren Tod.
Auch dem sagenumwobenen König Nelwyn war Ayani natürlich niemals begegnet. Wenn sie den Erzählungen der Alten allerdings glauben konnte - und es gab nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln -, dann musste Nelwyn ein tapferer und
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