MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
edelmütiger Herrscher gewesen sein. Daher konnte Ayani auch gut verstehen, dass die Alwen zutiefst verzweifelt waren und einen Retter aus der Not herbeisehnten. Aber nun hatte Maruna behauptet, dass er kam - dass die Zeichen auf ihn hindeuteten!
Konnte das denn stimmen?
Oder hatte die Mutter die vermeintlichen Zeichen nur falsch gedeutet?
Vielleicht gab es für den frühen Flug der Rotschwalben und Wandergänse ja ganz andere Gründe, die in keinem Zusammenhang mit dem ersehnten Befreier standen?
Während Pirrik seine Drachenschwingen ausbreitete und von Ayanis Schulter flatterte, um in einer nahen Krüppelkiefer auf Beutesuche zu gehen - er liebte Larven und Maden über alles -, trat das Mädchen auf den Steg, der unter seinem Tritt leicht schwankte. An seinem Ende kniete Ayani gedankenverloren nieder, um Wasser aus dem See zu schöpfen. Plötzlich ertönte der Ruf eines Falken - wie aus weiter Ferne, aber dennoch unverkennbar. Er war kaum verklungen, als ein kühler Wind aufkam. Der Wald hob an zu rauschen, das Schilf begann zu rascheln, und Ayani fühlte, wie ein Luftzug durch ihre Haare blies. Gleichzeitig verdunkelte sich der Himmel und ein Schatten senkte sich über den See.
Ayani stellte die Eimer ab, richtete sich auf und starrte auf das Wasser des Sees, das nun, wie von unsichtbarer Hand bewegt, immer heftiger ans Ufer schwappte. Pirrik schrie auf und Ayani hörte das hektische Flattern seiner Flügel. Gleichzeitig vernahm sie ein weiteres, ganz unverkennbares Geräusch, das ihr eisige Schauer über den Rücken schickte. Die Haare auf ihren Armen richteten sich auf und Gänsehaut prickelte über ihren Körper. Noch ehe sie sich umdrehte, wusste sie, was hinter ihr lauerte: ein Klauenwolf!
Die Bestie war fast so groß wie ein junges Rind und stand kaum zehn Schritte von Ayani entfernt zwischen den Bäumen. Das Gebiss mit den spitzen und mehr als fingerlangen Reißzähnen war gefletscht. Ein unheimliches Knurren grollte aus der Kehle des Klauenwolfs, während er Ayani mit seinen schwefelgelben Schlitzaugen anstarrte. Dann duckte sich das Untier, und Ayani sah, wie sich sein struppig schwarzes Rückenfell sträubte. Die lange Rute des Wolfs peitschte unruhig hin und her - das sichere Zeichen, dass er gleich angreifen würde.
Ayani wich mit klopfendem Herzen zurück, trat mit dem linken Fuß ins Leere, verlor das Gleichgewicht und stürzte nach hinten. Noch ehe sie im See aufschlug, wusste sie, dass sie dem Klauenwolf nun schutzlos ausgeliefert war.
D er Einband des Buches wies tatsächlich eine Prägung auf: eine germanische Rune, die Niko auf Anhieb erkannte. Es war die Mannaz-Rune, die einem großen M ähnelte. Allerdings wurde der obere Teil des Buchstabens von zwei gleichschenkligen Dreiecken gebildet, deren Spitzen aneinanderstießen.
Unwillkürlich griff Niko nach dem kupferfarbenen Medaillon, das er an einer Kette um den Hals trug. Darauf war ein ähnliches Symbol eingeprägt: die Dagaz-Rune. Im Gegensatz zur Mannaz-Rune bestand sie jedoch lediglich aus den beiden Dreiecken. Niko trug das ungewöhnliche Schmuckstück schon seit frühester Kindheit um den Hals. Er hatte keine Erinnerung daran, es jemals erhalten zu haben. Aber schon als er noch ein kleiner Junge war, hatte seine Mutter ihm eingeschärft, auf die Kette aufzupassen und sie niemals achtlos abzunehmen - unter keinen Umständen! Später hatte Niko sich natürlich darüber gewundert und hatte Rieke oft nach dem Grund für diesen seltsamen Wunsch befragt. Seine Mutter hatte jedoch niemals eine einleuchtende Antwort auf seine Frage gewusst, sie hatte immer nur felsenfest weiter darauf beharrt. »Es ist einfach wichtig, ich weiß es eben«, hatte sie gesagt und jede weitere Nachfrage abgewimmelt.
Rieke selbst trug auch ein Schmuckstück mit einer ähnlichen Gravur. Auf dem Ring an ihrer rechten Hand - er bestand ebenfalls aus Kupfer - war die Ehwaz-Rune zu sehen, die genau wie ein großes M aussah. Warum sie diesen Ring ebenfalls nie ablegte, wusste sie natürlich auch nicht zu erklären, und so vermutete Niko schließlich, dass das möglicherweise mit dem großen Geheimnis zusammenhing, das seine Herkunft umgab.
Als Rieke Niklas nämlich vor rund vierzehn Jahren nach langem, mysteriösem Verschwinden in einer stürmischen Gewitternacht völlig überraschend wieder bei ihren Eltern aufgetaucht war, trug sie einen Neugeborenen in den Armen und konnte sich an absolut nichts mehr
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