Mystic River
Teint. Aber nun konnte jeder die Flats sehen, ihre Reihenhäuser aus Backstein bewundern, den Blick auf den Penitentiary-Kanal genießen und die Nähe zur Innenstadt wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Auf einmal waren sie kein im Verborgenen lebender Volksstamm mehr. Sie lebten auf Grundstücken in bester Wohnlage.
Dave würde darüber nachdenken müssen, wie es so weit hatte kommen können. Wenn er wieder zu Hause war, würde er sich mit Hilfe seiner zwei Sixpacks eine Theorie zurechtlegen. Oder er suchte sich eine nette Kneipe, setzte sich an diesem schönen Tag ins Dunkle, bestellte einen Burger und plauderte mit der Bedienung. Vielleicht könnten sie ja gemeinsam herausfinden, wann die Flats ihnen entglitten waren, wann die ganze Welt sich ohne sie weitergedreht hatte.
Ja, vielleicht würde er das tun. Klar! Sich auf einen Lederhocker an einen Mahagonitresen setzen und den Nachmittag vertrödeln. Er würde seine Zukunft planen. Er würde die Zukunft seiner Familie planen. Er würde sich alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen lassen, wie er Buße tun konnte. Es war erstaunlich, wie nett drei Dosen Bier nach einem langen harten Tag sein konnten. Sie nahmen Dave bei der Hand und gingen mit ihm den Hügel zur Buckingham Avenue hoch. Sie sagten: Hey, ist das nicht toll? Ist es nicht einfach supergeil, eine neue Seite in seinem Leben aufzuschlagen, schmutzige Geheimnisse abzustreifen, seiner Frau und seinem Sohn zu sagen, wie sehr man sie liebte, und endlich der Mensch zu werden, der schon immer in einem gesteckt hatte? Junge, das ist doch einfach irre.
Und sieh mal da, wen haben wir denn da vorne? Wer steht denn da in seinem glänzenden Sportwagen an der Ecke und lächelt uns an? Wenn das mal nicht Val Savage ist, der uns angrinst und zuwinkt! Na, los! Sagen wir ihm guten Tag.
»Dandy Dave Boyle«, rief Val, als Dave sich dem Wagen näherte. »Alter Schwerenöter!«
»Noch nie gewesen«, knurrte Dave, beugte sich ein wenig durch das offene Seitenfenster des Wagens und schaute zu Val hinein. »Was treibst du so?«
Val zuckte mit den Schultern. »Nicht viel, Mann. Suche einen, der mit mir ‘n Bier trinken geht, vielleicht ‘ne Kleinigkeit essen.«
Dave konnte es nicht fassen. Er hatte doch gerade genau dasselbe gedacht! »Wirklich?«
»Ja. Hast du Bock auf ein paar Gläschen, vielleicht auf ‘ne Runde Billard, Dave, hm?«
»Klar.«
Dave war ein bisschen baff. Mit Vals Bruder Kevin und mit Jimmy verstand er sich zwar ganz gut, manchmal sogar mit Chuck, aber er konnte sich nicht erinnern, dass Val jemals etwas anderes als völlige Gleichgültigkeit ihm gegenüber gezeigt hatte. Es musste mit Katie zu tun haben, vermutete er. Ihr Tod führte sie zusammen. Sie litten alle unter dem Verlust, ihr Schmerz einte sie.
»Steig ein!«, forderte Val ihn auf. »Wir fahren zu einem Laden am anderen Ende der Stadt. Netter Schuppen. Gehört ‘nem Kumpel von mir.«
»Am anderen Ende der Stadt?« Dave drehte sich um und betrachtete die leere Straße, die er eben entlanggegangen war. »Hm, ich muss irgendwann wieder zurück nach Hause.«
»Klar, sicher«, sagte Val. »Ich bring dich zurück, wann du willst. Los, komm! Steig ein! Wir machen uns ‘nen schönen Herrenabend mitten am Tag.«
Dave grinste und lief um die Motorhaube herum zur Beifahrertür. Ein Herrenabend mitten am Tag. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Er und Val würden wie alte Kumpel gemeinsam abhängen. Das war das Tolle an einem Viertel wie den Flats und würde bestimmt demnächst verloren gehen: Alte Streitigkeiten ließen sich im Laufe der Zeit vollständig beilegen, sobald man erkannte, dass sich alles um einen herum veränderte und einem nur die Menschen blieben, mit denen man aufgewachsen war, und der Ort, wo man seine Wurzeln hatte. Unsere Nachbarn, mögen sie wenigstens in unserer Erinnerung für immer leben, dachte Dave, als er die Beifahrertür öffnete.
25 DER MANN IM KOFFERRAUM
Whitey und Sean aßen in Pat’s Diner spät zu Mittag. Das Restaurant lag an einer Autobahnausfahrt nicht weit von der Baracke entfernt. Der Laden existierte bereits seit dem Zweiten Weltkrieg und war schon so lange Treffpunkt der Staties, dass Pat der Dritte gerne behauptete, seine Familie sei womöglich der einzige Clan von Restaurantbesitzern, der seit drei Generationen noch nie überfallen worden sei.
Whitey schluckte einen Bissen vom Cheeseburger herunter und spülte mit Limonade nach. »Du glaubst doch keine Sekunde lang, dass es der Junge war,
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