Mystic River
war. Nein, er war ein kleiner Held. Maura in seinem Bett. Das Schicksal auf seiner Seite.
Dave Boyle. Damals wusste er nicht, wie kurz die Zukunft sein konnte. Wie schnell sie verschwinden und ihn in einer beschissenen Gegenwart zurücklassen konnte, in der es keine Überraschungen, keinen Grund zur Hoffnung gab, sondern nur Tage, die so unspektakulär ineinander übergingen, dass der Kalender in der Küche immer noch März zeigte, wenn das Jahr schon längst vorbei war.
Ich will aufhören zu träumen, redete er sich ein. Ich will mich nicht länger dem Schmerz aussetzen. Aber dann schaffte die Mannschaft die Playoffs oder man sah einen Film oder eine Reklamewand, auf der in dämmrig-glühendem Orange für Aruba geworben wurde, oder man sah ein Mädchen, das mit strahlenden Augen vor einem tanzte und mehr als eine nur flüchtige Ähnlichkeit mit einer Frau besaß, mit der man auf der Highschool gegangen war – die man geliebt und verloren hatte –, und man sagte sich: Scheiß drauf, nur noch ein einziges Mal träumen.
Als Rosemary Savage Samarco einmal im Sterben lag (das fünfte Mal von insgesamt zehn), hatte sie zu ihrer Tochter Celeste Boyle gesagt: »Ich schwör bei Gott, das einzige Mal, dass ich in meinem Leben so richtig Spaß gehabt hab, war, als ich deinem Vater die Eier wie ein nasses Handtuch lang gezogen habe.«
Celeste hatte sie selbstvergessen angelächelt und sich abwenden wollen, aber die arthritische Klaue ihrer Mutter klammerte sich um ihr Handgelenk und drückte ihr die Knochen zusammen.
»Hör mir zu, Celeste! Ich bin bald tot, deshalb meine ich es verdammt ernst. Wenn du Glück hast, bekommst du ein bisschen was vom Leben ab, viel ist das eh nicht. Ich bin morgen tot, aber ich will, dass meine Tochter eins kapiert: Einmal im Leben bekommst du ‘ne Chance. Verstehst du? Einmal im Leben bekommt man die Chance, dass was so richtig Spaß macht, zu tun. Meine war, diesem Schwein von Mann ordentlich die Eier lang zu ziehen, so oft es ging.« Ihre Augen leuchteten, Speichel klebte an ihren Lippen. »Glaub mir, irgendwann fand er’s Klasse!«
Celeste wischte ihrer Mutter mit einem Handtuch über die Stirn. Sie lächelte und sagte mit sanfter, beruhigender Stimme: »Momma.« Sie tupfte ihr den Speichel von den Lippen, streichelte ihr die Hand und dachte die ganze Zeit: Ich muss hier raus. Raus aus diesem Haus, aus diesem Viertel, weg von diesem wahnsinnigen Ort, wo den Leuten einfach die Hirne verfaulen, weil sie zu arm, zu abgenervt oder zu hilflos sind, um irgendwas dagegen zu tun.
Aber ihre Mutter starb nicht. Sie überlebte eine Dickdarmentzündung, Unterzuckerung, Nierenversagen, zwei Herzinfarkte, bösartigen Krebs in einer Brust und im Darm. Eines Tages stellte ihre Bauchspeicheldrüse die Arbeit ein, hörte einfach auf und machte eine Woche später wieder weiter, als wäre nichts gewesen. Mehrmals baten die Ärzte Celeste, den Körper ihrer Mutter nach deren Tod untersuchen zu dürfen.
Die ersten Male hatte Celeste noch gefragt: »Welches Körperteil denn?«
»Alle.«
Rosemary Savage Samarco hatte einen Bruder in den Flats, den sie hasste, zwei Schwestern in Florida, die nicht mit ihr reden wollten, und sie hatte ihrem Mann die Eier so erfolgreich lang gezogen, dass er auf der Flucht vor ihr früh ins Grab gestiegen war. Celeste war ihr einziges Kind nach acht Fehlgeburten gewesen. Als Celeste klein gewesen war, hatte sie sich immer vorgestellt, wie diese Beinahe-Schwestern und -Brüder im Fegefeuer herumschwebten. Jedes Mal hatte sie gedacht: Ich bin entwischt.
Als Teenager war Celeste überzeugt gewesen, dass irgendjemand kommen und sie herausholen würde. Sie sah nicht schlecht aus. Sie war nicht verbittert, hatte ein liebes Wesen, lachte gerne. Sie ging davon aus, dass es mit diesen Voraussetzungen irgendwann klappen würde. Das Problem war nur: Sie lernte zwar ein paar Kandidaten kennen, aber die waren nicht von dem Kaliber, dass sie sie umgehauen hätten. Die meisten kamen aus Buckingham, überwiegend Kerle aus dem Point oder den Flats, ein paar aus Rome Basin und ein Typ aus einer besseren Gegend, den sie auf der Blaine Hairstyling School kennen gelernt hatte, aber der war schwul, was er selbst nur noch nicht wusste.
Die Krankenversicherung ihrer Mutter war für den Arsch und bald stellte Celeste fest, dass sie nur noch für monstermäßige Arztrechnungen bei monstermäßigen Krankheiten schuftete und doch nur den Mindestbeitrag zahlen konnte, ohne dass diese Krankheiten
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