Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
Schau zu und trauere nicht. Was sich dir eröffnen wird, ist schöner und größer, als es dein jämmerliches Menschenleben jemals sein kann. Es ist ein neuer Anfang. Ein neuer Beginn für diese Welt. Wir werden sie uns untertan machen. Du und ich. Mamothma und sie, die man Sephretes Mutter nennt.« Er ließ eine Hand über Graces Leib schweben. »Oh, wie schwer es ist, zu töten, was man liebt. Und doch ist es das größte Opfer, dessen wir fähig sind. Ich liebte Sephrete alle die Jahre. Ich verzieh ihr, dass sie mich vergiftete. Ich wartete, bis sie wiederkehren würde. Geduld wird stets belohnt.« Er hob seinen Dolch.
Linda schrie markerschütternd. »Töte mich! Lass sie leben und töte mich!«
Mamothma fuhr herum. Sein Zeigefinger schnellte vor. Seine Ringe reflektierten das unwirkliche Licht, welches die Wände abstrahlten. Er lachte dröhnend. »Das ist es, was ich hören wollte! Du bist auserwählt. Du bist wirklich jene, die für ihre Tochter sterben würde. Du liebst wahrhaftig! Du würdest ein noch größeres Opfer schenken, als ich es vermag. Dein eigenes Leben!« Er schnippte mit den Fingern. Um Linda herum lösten sich Steinbrocken. Die Spannung, die sich um ihre Leibesmitte gelegt hatte, ließ nach. Sie rutschte aus dem Loch, als habe man die Steine mit Schmierseife behandelt. Sie war frei. Sie fiel kopfüber auf den Boden der Grabkammer. Schnell erhob sie sich und richtete sich weit auf. Sie spannte ihre Schultern und stand vor Mamothma. Alle Angst war von ihr gewichen. Sie starrte dem Geist direkt in die Augen.
23
»Du würdest es tun? Für deine Tochter sterben?«, fragte Mamothma lauernd, als könne er nicht glauben, was Linda gerufen hatte. Er lachte und winkte ab. »Selbstverständlich würdest du es tun.« Er kicherte dumpf. Grelle Hitze ging von ihm aus. Linda trat einen Schritt zurück. Der Geist glühte und loderte. »Aber es wird nicht notwendig sein. Die Weissagung sagt, dass es Sephrete sein muss. Und sie sagt, dass eine Mutter kommen wird, deren Mut alles andere überschatten wird. Und diese Mutter bist du. Du würdest für deine Tochter sterben und alleine das zählt. Du wirst eine würdige Herrscherin sein. An meiner Seite! An der Seite von Mamothma!«
»Jede Mutter würde für ihr Kind sterben«, flüsterte Linda.
Der Geist schwebte heran und Linda wich zurück. Er war ein wandelnder Glutofen. Hinzu kam, dass er eine gefährliche Faszination ausstrahlte. Er legte den Kopf schief. »Meinst du?«
»Ja.«
»Und wie kommt es, dass meine Mutter es zuließ, dass auf Geheiß des Pharaos meine Brüder vom Feld geholt, versklavt und später, als sie zu alt waren, um nützlich zu sein, in siedendes Öl gesteckt wurden? Warum stellte sie sich den Häschern des Pharaos nicht entgegen? Warum versteckte sie uns kleine Kinder nicht? Warum konnte ich nur überleben, weil ich klug war, und mir eine Höhle suchte, von der niemand etwas ahnte? Ich kehrte unter falschem Namen zurück und diente mich hoch. Ein ehemaliger Fellache ... dazu verdammt, den Oberen zu dienen. Ich arbeitete bei den Pyramiden und bald wurde ich unentbehrlich. Meine Kenntnisse waren gefragt und schließlich wurde ich abberufen, um andere Bauwerke zu beaufsichtigen. Mein Aufstieg war nur ein Kinderspiel. Ich betete zu den Göttern und sie beschenkten mich.«
Mamothmas Geist sank etwas in sich zusammen. »Warum schützte meine Mutter uns nicht? Warum mussten meine Schwestern dem Pharao und seinen Lakaien als Konkubinen dienen? Warum musste eine meiner Schwestern für einen dieser Herrscher in den Tod gehen? Man legte sie bei lebendigem Leibe neben seine Leiche und mauert sie ein. Warum hielt meine Mutter die Hand auf und ließ sich für ihre Demut und ihr Schweigen mit Goldstücken entlohnen? Warum gebar sie uns? Um uns zu verkaufen, wie man Hühner und Ziegen verkauft?«
Sogar die zischelnden Stimmen schwiegen. Es war, als sei an deren Stelle ein trauriges Summen getreten. Die Jüngerstimmen weinten.
Mamothma schwebte auf der Stelle, den Kopf gesenkt. Das grelle Licht, welches die Wände ausstrahlte, verdunkelte sich. Bald war es nur noch jenes feine Glitzern, das Linda schon am Morgen aufgefallen war. Die Flammen an Mamothmas Körper verloschen. Es wurde dämmerig in der Grabkammer. Er drehte sich wie in Zeitlupe zu Grace und hob den Dolch. Linda starrte wie versteinert zum Sarkophag. Grace weinte , und ihr Kopf zuckte hilflos auf und ab. Sie stand unter Mamothmas Bann. Stärker, als es jede Fessel
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