Mystic
einen purpurroten Pullover und weiße Tennisschuhe angezogen. Tina trug eine blaue Windjacke und hielt eine hübsche kleine Zweijährige in einem rosafarbenen Overall an der Hand, die am Daumen lutschte. Loomis stellte sie als Jenny vor.
Sie stiegen in Loomis’ rostigen Jeep. Missy, die Labradorhündin, wollte auch mit hinein, doch Loomis scheuchte sie fort. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Der fast volle Mond ging langsam auf und warf Schatten. Der Hund lief voraus und umkreiste sie, als sie auf dem kleinen, kiesbestreuten Halteplatz neben Andies Pick-up parkten.
Auf der Veranda des Ladens nahm der Uhrmacher Jenny auf den Arm und drückte mit der anderen Hand einen langen Code in die elektronische Sicherung. Dann öffnete er die Tür. Missy zwängte sich zwischen ihren Beinen hindurch und schoss in das dunkle Innere hinein. Loomis knipste das Licht an, und man konnte zwei ineinander übergehende Räume sehen, gefüllt mit allen nur vorstellbaren Arten von Uhren, die an den Wänden hingen oder standen. Schwere, reichverzierte Standuhren, Banjo-Uhren aus dem neunzehnten Jahrhundert, französische Tischuhren. Und zwischen den Uhren, die auf einem halben Dutzend Tische verteilt waren, standen alte Spieluhren in unterschiedlichen Stadien von Reparatur und Montage.
Tina und Jenny gingen sofort zu einer der Spieluhren und stellten sie an. Blecherne Musik füllte den Raum, während die beiden kleinen Mädchen zu tanzen begannen.
Loomis führte Andie in ein Hinterzimmer, das nach Nähmaschinenöl roch und mit den Präzisionswerkzeugen seines Berufs angefüllt war. Der Uhrmacher nahm vorsichtig eine Spieluhr von einem Paar übereinandergestapelter Eichenschubladen. Er rückte die Schubladen von der Wand ab und kramte einige Augenblicke auf dem Boden, bevor er mit einer schwarzen Gummitasche mit Reißverschluss wieder auftauchte. Er überreichte Andie die Tasche so, als handelte es sich dabei um etwas Ekelerregendes.
Ohne etwas zu sagen, zog sie den Reißverschluss auf und holte einen roten Lederbeutel heraus. Er war an seinem Boden ausgebeult. Sie knotete die grünen Bänder auf und schlug die Klappe zurück.
Neben den vergilbten, zusammengefalteten Seiten von Many Horses’ Tagebuch steckte ein Pfeifenkopf. Vorsichtig zog sie ihn hervor und besah sich den Kopf, auf den ein silberner Büffel und zwei rote Dreiecke gemalt waren. Sie fuhr mit dem Daumen in den Pfeifenkopf und spürte, dass er innen rau war. Dann machte sie fast einen Satz, als der Pfeifenkopf warm, beinah heiß wurde in ihrer Hand.
»Sie spricht in ihrem Tagebuch von der Pfeife«, sagte Loomis und wies auf die gelben Blätter, die aus dem Beutel ragten. »Es handelt von alten Schamanenzeremonien, die sie von ihrem Vater und ihrer Mutter gelernt hat. Das meiste versteh ich gar nicht.«
»Wer hat Ihnen den Beutel gegeben?«
»Mein Vater«, antwortete Loomis. »Eine Woche bevor er starb. Er sagte, seine Großmutter habe ihm den Beutel gegeben, und die habe ihn von einem Priester bekommen, bei dem sie arbeitete.«
»Welcher Priester? Hieß er etwa D’Angelo?«
Loomis zuckte die Achseln. »Ja, ich glaube, das war der Name.«
»Es ergibt einen Sinn, dass D’Angelo derjenige gewesen sein könnte, der das Tagebuch verteilte«, sagte sie aufgeregt. »Aber McColl hat doch gesagt, er sei nie auf etwas mit einer Sioux-Frau gestoßen.«
»Jetzt reden Sie für mich in Rätseln.« Loomis schüttelte verwirrt den Kopf. »Wer ist denn McColl?«
»Vergessen Sie, dass Sie es gehört haben. Ich werde Verstärkung holen, damit Sie und Ihre Töchter heute Nacht Schutz haben. Haben Sie eine Bleibe, wo Sie morgen früh hinfahren können?«
»Karens Schwester hat ein Ferienhaus in Maine.«
»Prima«, sagte Andie. »Ich würde gern einen Polizisten, der Ihnen ähnlich sieht, hier im Haus lassen, wenn Sie fort sind.«
»Als Köder, meinen Sie?«, fragte Loomis besorgt.
»Ja, so ähnlich.« Andie steckte den warmen Pfeifenkopf und die Tagebuchseiten in den Beutel zurück. »Ich muss telefonieren.«
Der Uhrmacher zeigte ihr einen Apparat an der Wand und bat sie, das Licht auszumachen und die Haustür hinter sich zu schließen. Das elektronische Schloss würde automatisch verriegeln. Er warf einen letzten Blick auf den Beutel in Andies Hand, rief dann seine Mädchen zu sich, pfiff den Hund herbei und ging wieder in die Nacht hinaus. Andie rief das Einsatzzentrum an.
»Sie haben ganz knapp Ihren glühenden Verehrer verpasst«, sagte der Mann in der Zentrale.
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