Mystic
sagte Jerry. »Komm so schnell wie möglich nach Washington. Harold will morgen Nachmittag persönlich mit dir sprechen.«
»Wer ist Harold?«, fragte Andie, nachdem Gallagher seine Geschichte beendet hatte.
»Jerry weigerte sich, noch irgendetwas zu sagen«, antwortete er. »Aber ich kenne meinen Partner. Er mag eine Menge Fehler haben, aber ein Angsthase ist er nicht. Er hat über vier Kriege Bericht erstattet und ist durch drei Scheidungen gegangen, und heute hörte er sich so aufgeregt an, wie ich ihn selten erlebt habe. Ich nehme morgen früh die erste Maschine, die nach Washington geht.«
Andie schwieg einen Moment, dann gestand sie ängstlich: »Auf dem ganzen Rückweg von Waterbury musste ich dagegen ankämpfen, anzuhalten und irgendwo einen Schluck zu trinken, Pat. Ich weiß nicht, ob ich das durchstehe. Es ist, als suchten wir die Bestandteile von etwas so Schrecklichem zusammen, dass ich …«
»Du wirst es schon schaffen, Andie.« Er lehnte sich über den Tisch und streichelte ihren Arm. »Denk dran, für wen du dies alles tust: für Olga und deine Mutter und Nyren und Hank Potter. Und Sarah. Ist es nicht so?«
»Ich weiß, aber es ist, als trieben wir inmitten eines Albtraums, den außer uns niemand sieht. Oder sehen will.«
Andie sah Gallagher mit ihren schmerzerfüllten braunen Augen an. Er wollte in sie eintauchen, um sich nur für ein Weilchen vor all dem Mord und Totschlag und der schmutzigen, brutalen Geschichte zu verstecken, die sie nach und nach enthüllten. Und er wünschte, dass sie ebenso in ihm Zuflucht suchte.
Gallagher nahm Andie bei der Hand, und sie gingen nach oben. Es war das zweite Mal, dass sie zusammen waren, und es schien ihnen, als würden sie sich ihrer noch einmal ganz neu bewusst, während einer dem anderen zeigte, wie sie beide uneingeschränkt Lust geben und empfangen konnten.
Später lagen sie eng aneinandergeschmiegt in der Dunkelheit.
»Wirst du wieder gehen, wenn alles vorbei ist?«, fragte Andie.
Gallagher konnte das Drängen in ihrer Stimme hören, musste dann aber an Emily denken und fühlte sich wie gelähmt. »Ich weiß nicht, Andie.«
Einen Augenblick herrschte Stille, bevor sie sagte: »Obwohl wir uns noch nicht lange kennen, fühl ich mich wohl mit dir, Pat.«
Gallagher schloss die Augen und versuchte, das Gefühl des Eingeengtseins zu bekämpfen. »Mir geht’s genauso. Ich brauch nur noch ein bisschen Zeit, um herauszubekommen, was dieses Wohlfühlen bedeutet, Andie.«
»Oh«, sagte sie nur und drehte sich auf die andere Seite. Das Bett, bis jetzt ein warmes Refugium, war plötzlich kalt und ungeschützt. Ein anderer Mann hätte vielleicht die Hand ausgestreckt und sie zu sich herangezogen, um ihr Sicherheit zu geben. Aber Gallagher schaffte es nicht. Er starrte in die Dunkelheit und sah einen schnell fließenden Bach vor sich, irgendwo oben im Staat New York. Es war Oktober, vor neunzehn Monaten. Das Ahornlaub war leuchtend rot. Die braunen Forellen laichten und bissen nach seinem Köder. Emily und Gallagher hatten den Dokumentarfilm über die Kriegskinder aus dem Libanon beendet und dann einen weiteren über das übernatürliche Leben der australischen Aborigines. Seit zwei Monaten machten sie jetzt schon Urlaub und überlegten, welches Thema sie als Nächstes bearbeiten sollten. Ein Jahr war vergangen seit der Abtreibung in Paris, und Gallagher glaubte, sie seien beide darüber hinweg.
Emily saß hinter ihm auf einem Felsen. Sie drehte einen glatten, runden Stein in der Hand. Seit nahezu einer Stunde hatte sie kein Wort mehr gesagt, und er auch nicht.
Plötzlich erklärte sie: »Ich habe keine Lust mehr zu filmen, Pat. Ich habe mich entschlossen, das Buch über Mexiko zu machen. Ich werde sechs Monate fort sein.«
Gallaghers Magen zog sich zusammen. Sie hatten das Projekt nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Es gelang ihm, mit einer Frotzelei zu antworten. »Ein Blick aus der Nähe auf die Kultur einer Tortillafabrik?«
Emily schleuderte den Stein ins Wasser, genau dorthin, wo er fischte. »Sich immer schön hinter einem Witz, der Angelrute und einem schnellen, schlagfertigen Kommentar verstecken, was, Pat?«
»Das hat mich bisher immer gut durch die harten Zeiten gebracht«, erwiderte er. »Was hältst du denn hiervon: Du gehst nur nach Mexiko, um mich zu verletzen.«
»Es geht wohl immer nur um dich?«, rief Emily. »Diesmal geht es um mich. Um das, was
ich
will.«
Er starrte sie an. »Du hast gesagt, du wärst einverstanden
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