Mystic
Cornelia fort. »Nicht, dass ich was gegen eine ordentliche Tracht Prügel hätte, aber –« Sie machte eine Pause und fuhr wieder mit der Zunge über ihren Hauer. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber nach einer Weile bekam man den Eindruck, dass es ihm Spaß machte. Sie zu prügeln, meine ich.«
»Und Gott allein weiß, was ihm sonst noch Spaß machte«, keuchte Stubbins, um dann zu erzählen, dass der Priester seine Lieblinge hatte. Und der größte Liebling war Terrance Danby. Als Danby fünfzehn wurde, hörte man oft, wie er sich mit dem Priester, einem gebildeten Jesuiten, über Bücher und Sprachen unterhielt.
Im selben Jahr fand Stubbins bei einer seiner nächtlichen Runden die Betten von Danby und einem anderen Jungen leer. Er lief los, um dem Priester Bescheid zu sagen, stieß aber unterwegs auf Danby, der den weinenden Jungen in den Schlafsaal zurückführte. Danby sagte, der Junge sei böse gewesen und der Priester habe ihn sehen wollen.
Im Laufe der folgenden zwei Jahre erlebte Stubbins viele nächtliche Zusammentreffen mit Danby und anderen Jungen, die auch alle böse gewesen waren. Obwohl man die Jungen aus Hennessy House nicht mehr von der Schule verwies, wurde das Heim, mit Cornelia Stubbins’ Worten, »düster und eklig. Ein liebloser Ort.«
An einem Tag im Sommer 1975 hörte Cornelia, wie Danbys alter Feind, Alan Haig, zu einem anderen Jungen sagte, er habe »die Nase voll von dem Ganzen. Ich gehe zum Bischof oder zur Polizei oder sonst wohin, wenn es nicht aufhört.«
Eine Woche später wurde Haigs Leiche in den Wäldern nördlich von Burlington gefunden. Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt. Danby stand sofort unter Verdacht, aber der Priester gab dem Teenager ein wasserdichtes Alibi: Sie seien den ganzen Tag zusammen auf der anderen Seite des Mount Mansfield gewandert.
Im Zuge der Ermittlungen in dem Mordfall brachten die Kriminalbeamten mehrere der Jungen aus dem Heim dazu, über ihr Leben in Hennessy House zu berichten. Innerhalb von Monaten traf die Diözese die Entscheidung, das Waisenhaus zu schließen. Terrance Danby war siebzehn, und man riet ihm dringend, zur Armee zu gehen. Der Priester wurde in aller Stille nach Zentralamerika geschickt, um dort als Missionar zu arbeiten.
»Als Missionar?«, fragte Gallagher, in dem plötzlich die Erinnerung an ein Foto aufblitzte, das er vor kurzem gesehen hatte. »Wie hieß er denn?«
»McColl«, krächzte Stubbins. »Timothy McColl.«
32
»Lawton ist zur eiternden Wunde geworden«, sagte Andie düster. »Ich weiß nicht mehr, wem ich noch trauen kann, Pat.«
Es war neun Uhr am Mittwochabend. Sie hatten die Vorhänge an allen Küchenfenstern zugezogen und saßen am Küchentisch, ihre Notizen über den Lamont-Powell-Bericht aus der Klinik in Waterbury zwischen sich. Sie trug einen verwaschenen Blue-Jeans-Overall, einen weißen, mit purpurroten Blumen bestickten Pulli und Make-up – das erste, das er je an ihr gesehen hatte –, um die bläuliche Naht der Wunde abzudecken.
»Mir kannst du trauen«, sagte Gallagher.
»Kann ich das wirklich?«, fragte sie.
»Hab ich nicht zu dir gehalten?«
Andie nickte, langte über den Tisch und drückte seine Hand. »Entschuldige. Ich habe einfach Angst.«
Gallagher drückte zurück. »Entschuldigung angenommen. Was ist außerdem noch mit Powell geschehen?«
Sie blätterte die Seite ihres Notizbuchs um. »Hör dir das an: ›Der Patient Powell wurde eingewiesen, nachdem man ihn in seinem Büro gefunden hatte, als er versuchte, sich die oberen Schneidezähne mit einer Zange aus dem Mund zu ziehen. Der Patient hat die letzten drei Monate abwechselnd in einer Zwangsjacke und in einer Gummizelle im Block C für die gewalttätigen Wahnsinnigen verbracht‹«, fuhr sie fort. »›Der Patient Powell leidet unter ausgedehnten Perioden schwerer Wahnvorstellungen, in denen er angibt, von einer indianischen Squaw heimgesucht zu werden, die ihn, wie er sagt, deshalb verfolgt, weil er an ihrer Ermordung beteiligt war.
Powell gibt an, die Squaw schwebe vor ihm und sage ihm, er sei verdammt, denn‹ – und damit wird offensichtlich Powell selbst zitiert – ›sie wurde weder vom Feuer noch vom Wasser, noch von der Erde, sondern von Menschen verschlungen.‹«
Gallagher verschüttete seinen Kaffee auf den Küchentisch. Erregt sprang er auf. »Lies den letzten Abschnitt noch mal.«
»Sie wurde weder vom Feuer noch vom Wasser, noch von der Erde, sondern von Menschen verschlungen«, wiederholte
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