Mystik des Herzens
Melodien im Sinn schwingend ausschreiten, ja tanzen. Christiane Wieland hat Choreographien zu mehreren Hymnen entworfen, ich selbst habe mit ihr solche Hildegard-Schreittänze mit vollzogen, die von tiefer Spiritualität sind. Es ist eine meditative Übung, solche Tänze mitzutanzen, sie aber auch selber zu gestalten, indem wir ihre Hymnen ausschreiten.
Der Hymnus von der »Heilenden Kraft« endet mit einem Lob an diese Kraft, die ihr Wirken aufs Schönste beschreibt:
»Wehest Weisheit ins Leben
und mit der Weisheit
die Freude.«
Auch dies können wir meditieren.
Wie hängen Weisheit und Freude zusammen?
Fünfte Übung:
Wir imaginieren, das entsprechende Bild aus dem Rupertsberger Codex vor Augen, eine Schau Hildegards mit. Sie sieht da eine saphirblaue Menschengestalt, die durch und durch von zwei Lichtkreisen durchdrungen ist, der eine mehr sonnen-, der andere mehr mondhaft, die sie berühren, aber nicht verbrennen. Sie weiß, dass es sich um eine einheitliche Kraft handelt. Die saphirblaue Menschengestalt ist durchlässig für das doppelte Energiefeld der Sonnen- und Mondkräfte, die sie in einer wie segnenden Geste zu dem Betrachter hin ausstrahlt und mit dieser Geste zugleich Distanz wahrt gegenüber dem, was von außen kommt.
Auch wenn Hildegard bei ihrem ersten Verstehensversuch dieser Schau, die ja unkommentiert über sie kam, bei dem saphirblauen Menschen, dem Menschen, der wie ein Edelstein ist, zunächst an Christus als an den wahren Menschengedacht haben mag, so ist diese Gestalt dem Buchmaler, der Buchmalerin als eine eher weibliche Gestalt geraten, die mit dem üblichen Typus, in dem Christus gemalt wird, nichts gemeinsam hat. Hier ist wahrscheinlich Hildegard gemeint, doch nicht einfach die historische Gestalt Hildegard von Bingen, sondern ihr saphirblauer Kern, ihr wahres Selbst, das in konzentrischen Kreisen umstrahlt ist, einmal von dem silbernen Mondlicht und von dem rötlichgoldenen Sonnenlicht, als zwei göttlichen Kraftfeldern. Mit dieser diaphanen saphirblauen Klarheit unseres wahren »Selbst« können auch wir uns bei der Kontemplation dieses Bildes, das jetzt »in uns« ist, das wir wie auswendig lernen können, selber auf die sonnen- und mondhaften Kraftfelder beziehen, die uns umgeben und erfüllen, als geistige und seelische Energie des »Lebens selbst«. 1
Sechste Übung:
Übung zur Grünen Sophia: Eine weitere große Schau Hildegards können wir annähernd mitvollziehen, wenn wir uns die entsprechenden Bilder vor Augen treten lassen: Wir sehen zunächst einen großen Kreis, ein Rund, ein Symbol für das Große Ganze des Lebens, der Welt, ja des Alls – und im Zentrum dieses Kreises erscheint eine Frauengestalt, die ihn schließlich ganz und gar ausfüllt, erfüllt. Wir sehen zuerst nur das Grün ihres seidenen Mantels, das nun auch in dem Kreis dominiert, dann ihre roten Schuhe, ihre Edelsteine, die das Gewand in allen Farben schmücken. Sehr weiblich empfunden ist diese Gestalt in dem seiden- herabfließenden Gewand und in den leuchtend roten Schuhen, die dem warmen Rot ihres Gesichts entspricht, für Hildegard die Farbe flammender Liebe. Sie hält wie Mose zwei leuchtende Tafeln in der Hand, das ungeschriebene Gesetz des Lebens. Nehmen wir dieses Bild in uns auf, als von ihr geschaute Bild, das wir uns nun aber aneignen, zueignen dürfen: ein Symbol der Weisheit, vonder wir, auch wenn es unser Verstehen übersteigt, das Große Ganze des Lebens durchdrungen und erfüllt glauben. Die Frauengestalt im grünen Seidenmantel ist eine Symbol-Gestalt für diese Weisheit, bzw. Sophia, die an einigen Stellen der Bibel als Partnerin Gottes bei der Schöpfung bekannt und benannt ist.
Dieses Mit-Imaginieren von Hildegards Schau ist eine wichtige Möglichkeit, die Gottesvorstellung, die Vorstellung vom Heiligen in der Welt durch eine weibliche Symbolisierung zu erweitern und zu ergänzen.
Versuchen wir dies durch Imagination der »Grünen Sophia«, auch vor dem Bild aus dem Codex von Lucca, das zu Hildegards liber divinorum operum , ihrer Kosmos-Schrift entstanden ist. 2 Auch hier kann ein eigener Gestaltungsversuch erfolgen: eine Gestaltung der »Grünen Sophia«, die das All erfüllt, ein Bild, an dem wir unsere Schau vertiefen können.
Durch Mit-Imaginieren also und Nachgestalten, durch Mitlieben und Mitleiden, durch Malen, Dichten, Tanzen und Musizieren mit den Frauen, die wir Mystikerinnen nennen, können und mögen wir unseren eigenen Zugang zur Mystik finden.
Zu
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