Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
Gegensatz zum Woodward Park gab es in den Rosengärten keine Straßenlaternen. Stattdessen war jedes Wasserelement von unten beleuchtet, was einen atemberaubenden Effekt hervorrief, denn die Gärten schienen von innen heraus zu strahlen, und ihr Spiegelbild tanzte auf jeder Wasseroberfläche. Eine Brise strich durch Mikkis Locken. Voll freudiger Erwartung überquerte sie die Grenze zwischen den beiden Parks und atmete tief ein; Rosen erfüllten ihre Sinne.
»Im Himmel könnte es nicht besser riechen«, flüsterte sie.
Als hätten ihre Füße die Entscheidung für sie getroffen, schlenderte sie ihren Lieblingsweg hinab und bewegte sich langsam auf das Zentrum der Gärten zu. In manchen Nächten waren die Gärten noch fast bis zum Ende der Öffnungszeit voller Leute, die Stühle und Picknickkörbe, Bücher und Zeichenblöcke dabeihatten. Doch an diesem Abend war, abgesehen von einem Pärchen, das auf einer Decke am Rand der obersten Ebene innig knutschte, kein Mensch unterwegs. Die beiden bemerkten Mikki nicht, was ihr nur recht war. Sie liebte es, die Rosen ganz für sich allein zu haben. Gemächlich schlenderte sie zwischen den Beeten hindurch und hielt immer wieder inne, um nach ihren Lieblingsrosen zu sehen. Die Nacht war vollkommen still; bis auf das leise Rauschen des Windes, das hypnotische Geräusch von tropfendem Wasser und das gedämpfte Klackern ihrer Absätze konnte sie nichts hören. Fast schien es, als würden die Rosen eine Schallmauer zwischen ihren Gärten und dem Rest der Welt bilden.
Sowohl ihr enttäuschendes Date als auch das Medea-Fiasko waren schon längst vergessen, und Mikki fühlte sich wieder bestens, als sie die breiten Stufen hinunterlief, die sich an der rechten Seite der dritten Ebene entlangzogen. So eilig hatte sie es, dass sie die Treppe, die ins Herz der Gärten führte, fast hinuntergehüpft wäre. Als Mikki unter dem hohen Steinbogen am Fuß der Treppe hindurchging, hatte sie wie immer das Gefühl, eine andere Welt zu betreten.
»Und du weißt, dass du einen großen Teil dazu beiträgst«, sagte sie lächelnd zu der imposanten Statue, die zwischen dem Steinbogen, durch den sie gerade getreten war, und ihrem Zwilling direkt links daneben aufragte.
»Hallo, alter Freund«, flüsterte sie, ging zu der Statue hinüber und atmete tief den Duft der Double Delights ein, die sie umgaben.
Die flackernde Beleuchtung des ein paar Meter entfernten, kreisförmigen Springbrunnens verlieh der Statue einen merkwürdigen Wasserglanz, so dass sie in ein gespenstisches, sich ständig veränderndes Licht getaucht war. Einen Moment lang hatte Mikki fast ein bisschen Angst; in dem blaustichigen Licht wirkte die Statue irgendwie lebendig. Der Abglanz des Wassers pulsierte auf der Marmoroberfläche und gab ihr den Anschein von menschlicher Haut. Die uralte Statue schien zu atmen …
»Sei nicht albern«, ermahnte sie sich. »Das ist dieselbe Statue, die schon immer hier steht. Und sie soll ein bisschen furchteinflößend aussehen, deshalb nennt man sie ja auch den Wächter der Rosen.«
Während Mikki sprach, nahm die Statue wieder die vertraute Gestalt an, die sie schon von Kindesbeinen an kannte. Eine örtliche Legende besagte, dass die Figur das Geschenk einer exzentrischen griechischen Erbin zur Taufe der Gärten im Jahr 1934 gewesen war. Der Grund für ihre Großzügigkeit war nicht bekannt – die meisten Leute nahmen an, dass sie sich bei einem Besuch in die Gärten verliebt hatte.
Mikki strich mit den Fingern über die leicht erhobenen Worte auf der Plakette: Biest der griechischen Göttin der Nacht – diese Statue ist eine restaurierte Nachbildung einer Statue im Parthenon, von der angenommen wird, dass sie als Inspiration für die kretische Sage des Minotaurus diente.
Mikkis Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. Die Statue hatte in ihren Augen nie ausgesehen wie der Minotaurus. Ja, sie hatte immer Bilder von exotischen Sagen und Legenden in ihr hervorgerufen und sie an lange schlaflose Nächte erinnert, in denen ihre Mutter ihr geheimnisvolle Märchen vorgelesen hatte, aber Mikki sah einfach nicht viel Ähnlichkeit zwischen der Statue und der mythischen Kreatur, die angeblich den Körper eines Mannes und den Kopf eines Bullen gehabt hatte.
»Du scheinst eher aus einer anderen Welt zu kommen als aus der griechischen Mythologie«, erklärte sie der Figur. Nicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, welch wunderbare, furchteinflößende Mischung aus männlicher Kraft und Bestie
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