Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
eingesogen? Was ist es denn?«
»Das ist die Essenz der Träume. Jede Nacht fangen die Mondblumen die Traumessenzen ein und ziehen sie in das dahinterliegende Zimmer. Dort gestalten die Frauen des Reichs sie neu, um sie in die Welt zurückzusenden und die Traummagie zu erschaffen.«
»Das alles passiert hinter diesen Türen?«
»Richtig.« Er lächelte über ihr unschuldiges Staunen.
Sie strahlte ihn an, und als sie seinen Arm drückte, hatte er das Gefühl, das Herz würde ihm aus der Brust springen, und er musste sich ins Gedächtnis rufen, dass es der Zauber des Reichs war, der sie so erregte, und nicht etwa seine Gegenwart. Aber das machte ja nichts – ihre Freude freute auch ihn, ganz gleich, woher sie kam, und er war fest entschlossen, sie ebenso zu genießen wie das Wohlbehagen, das ihm Mikados Gegenwart bereitete – solange ihr Schicksal es gestattete.
»Geht voraus, Mikado, ich werde Euch in die Zimmer der Träume folgen.«
Sie nickte, holte tief Luft und legte die Hand auf den ersten Türknauf. Die Tür öffnete sich nach innen. Mikki betrat den Raum, blinzelte und versuchte, schlau zu werden aus dem, was sie sah.
Auch im Zimmer waberte ein Nebel mit dem süßen Duft der Mondblumen, und die Frauen bliesen Glaskugeln – bis hierher war alles leicht zu verstehen. Es war wärmer als im Korridor, aber nicht so warm, wie man es angesichts der offenen Öfen angenommen hätte, die in allen vier Ecken des Zimmers standen. Als Mikki und der Wächter eintraten, blickten die Frauen von ihrer Arbeit auf. Sie ignorierten Asterius, knicksten aber vor ihrer Empousa und begrüßten sie fröhlich.
»Lasst euch nicht stören. Macht einfach weiter mit … äh, mit dem, was ihr gerade tut«, sagte Mikki hastig.
»Sie machen Traumkugeln.«
Asterius stand sehr dicht neben ihr, und seine tiefe Stimme an ihrem Ohr brachte die Haut in ihrem Nacken zum Prickeln.
»Seht Ihr – je größer die Kugel wird, desto mehr wächst auch der Traum in ihr.«
Mikki nickte und beobachtete fasziniert, wie die Frauen in die langen, dünnen Rohre pusteten und sie drehten, bis die geschmolzenen Glasklumpen am Ende des Rohrs sich zu zarten, schimmernden Kugeln in allen erdenklichen Farben formten. Immer größer wurden sie, und dann konnte Mikki sehen, dass sich in ihnen etwas befand. Behutsam näherte sie sich und erkannte im Innern der Kugeln alle möglichen phantastischen Szenen. In einer von ihnen sprang ein kleines Mädchen von einer Klippe, aber statt zu fallen, schwebte es über einen violetten Himmel und sang den Vögeln etwas vor, die aussahen wie fliegende Pinguine. In einer anderen Kugel übten sich zwei Ritter im Zweikampf und wurden von ein paar spärlich bekleideten Frauen bejubelt. In einer weiteren blickte eine alte Frau in einen Handspiegel, und in dem Spiegel wurde ihr Gesicht immer jünger, bis aus ihr ein Mädchen mit glatter, faltenfreier Haut geworden war.
»Ihr seht hier die Essenz überarbeiteter Träume.«
»Dann sind das die Träume, welche die Menschen tatsächlich haben werden?«
»Ja.«
»Wie kommen sie denn von hier in die Gedanken der Leute?«
»Schaut dorthin.« Asterius deutete zu einer Frau, deren Kugel die Größe einer Grapefruit erreicht hatte. Sie hörte auf, in das Rohr zu blasen, und hob die Kugel auf Augenhöhe. In der Szene im Innern erkannte Mikki eine Frau, die durch ein Meer aus kniehohem, blauem Gras tanzte, während vom Himmel Blumen auf sie herabregneten. Die Traumarbeiterin klopfte mit dem Fingernagel ein Mal gegen die Kugel, und sie löste sich glatt von der Röhre. Aber sie fiel nicht etwa zu Boden und zerbrach, wie Mikki es erwartet hätte, sondern schwebte in der Luft. Als die Frau noch einen Atemhauch auf sie blies, hob sich die Kugel empor und verschwand schließlich durch die Decke.
»Wollt Ihr auch einen Traum erschaffen, Empousa?«
Erschrocken zuckte Mikki zusammen, als die Frau, die gerade ihre Kugel hatte wegfliegen lassen, ihr das Blasrohr hinhielt.
»Oh, danke, aber lieber nicht. Heute Abend schaue ich nur zu.«
»Wie Ihr wünscht, Empousa«, antwortete die Frau mit einem Lächeln und machte sich wieder an die Arbeit.
Mikki ergriff Asterius’ Hand und zog ihn zur Tür. »Ich möchte noch mehr sehen!«
»Wie Ihr wünscht, Empousa.« In Gegenwart der Frauen, die ihm zusahen und zuhörten, versuchte er, förmlich und distanziert zu klingen, aber die kleine Hand, die sich so selbstverständlich in seine schmiegte, war für ihn ein unbezahlbarer Schatz, und er konnte
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