Mythor - 123 - Duell der Steinmänner
Gaukler erklären lassen. Nahezu jeder ist imstande, einen zehn Schritt langen, handbreiten Balken entlangzugehen, wenn der Balken auf dem Boden liegt. In luftiger Höhe ist die Aufgabe haargenau die gleiche – und doch schafft es kaum jemand, die Angst vor der Tiefe zu überwinden. Hier gab es ähnliche Sorgen. Dutzende von Malen war Mythor über solche Wegstrecken hinweggegangen, ohne sich sonderlich zu kümmern, sogar über entschieden schmalere Pfade. Jetzt klaffte zur Rechten der Abgrund…
Mythor hörte auf das Heulen und Fauchen, das aus der Tiefe hochgetragen wurde. Während er einfach weiterschritt, versuchte er Einzelheiten herauszuhören, und als er auf der anderen Seite ankam, flog ein Lächeln über sein Gesicht.
»Wißt ihr, was wir da hören?« fragte er. »Wenn ihr ganz genau hinhört, werdet ihr Schwerterklirren heraushören können. Ich nehme an, daß wir auf irgendeine seltsame Art und Weise den Kampf lärm hören, den es jetzt oben in Loonkamp gibt.«
»Tatsächlich«, staunte Necron. »Ich kann jetzt sogar Stimmen unterscheiden.«
Gerrek war der nächste, der über die Gleitstelle hinwegmußte. Er schaffte es ohne Schwierigkeiten. Prinz Odam folgte.
Es sah ganz danach aus, als wäre diese Gefahr glücklich überstanden, als es zu einer Panne kam. Einer der drei Schlackenhelm-Krieger, die Odam begleiteten, verlor den Halt.
Er schrie gellend auf und stürzte. Anders als Mythor hatte er den Zügel seines Tokuans ums Handgelenk geschlungen, und er hatte es nur der Ruhe des Tieres zu danken, daß er nicht im Abgrund verschwand. Der Tokuan bewahrte Ruhe und blieb stehen. Das Tier schnaubte heftig, aber es versuchte nicht, die Last am Hals abzuschütteln.
»Bleib ruhig!« rief Mythor. »Ich komme dir zu Hilfe!«
Er ließ den Zügel fahren und eilte zu der Absturzstelle hinüber. Mythor warf sich auf den Boden. Das Wasser, klar und kalt, durchtränkte seine Kleidung.
Der Krieger hing genau unter dem Quell. Das Wasser überströmte seinen Körper und lief ihm mitten ins Gesicht; wenn Mythor ihm nicht bald half, mußte der Mann in dieser absonderlichen Lage ertrinken. »Gib mir deine Hand!«
Der Klammergriff war bald hergestellt.
Mythor spannte die Muskeln an. In diesem Augenblick spürte er die unheimliche Bedrohung, die aus der Tiefe stieg. Sie betraf offenbar nur jene, die sich zuviel Zeit für das Überqueren der Gleitstelle nahmen.
Eine fürchterliche Angst erfaßte Mythor und schnürte ihm den Atem ab. Irgend etwas saß dort unten und strömte Furcht wie ein Gas in die Höhe.
Mythor spürte, wie der Krieger an seinem Arm erschlaffte, er hatte das Bewußtsein verloren. Glücklicherweise waren die Tokuane zu stumpfgeistig, um der Wirkung schnell zu erliegen.
Mit immer schneller gehendem Herzschlag spannte Mythor noch einmal die Muskeln an. Es war, als griffe jemand aus dem Dunkel unter ihm mit gierigen Händen nach seinem Körper, um ihn in die Tiefe zu ziehen. Mythor spürte, wie dieser Sog immer stärker wurde.
Ein Ruck, der Oberkörper des Kriegers lag wieder auf dem Felsband. Das Wasser spritzte über den schlaffen Leib hinweg.
»Ich nehme ihn dir ab«, sagte Gerrek hinter Mythor. Der Beuteldrache packte zu.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann war die Gefahr vorüber. Mythor und Gerrek trugen den Bewußtlosen hinüber zu den anderen. Am Gesichtsausdruck des Kriegers konnte Mythor sehen, daß er keiner Täuschung aufgesessen war – das leichenfahle Angesicht war angstverzerrt.
Nach kurzer Zeit kehrte das Bewußtsein in den Mann zurück, als erstes stieß er einen Schrei aus, dann begann er am ganzen Leib zu zittern. Mythor beruhigte den völlig verstörten Mann. Erst nach geraumer Zeit war er wieder soweit hergestellt, daß er seinen Tokuan führen konnte. Die Gruppe setzte den Weg durch die Unterwelt von Loonkamp fort.
Mythor berichtete Aeda und den anderen, was er erlebt hatte.
»Dort unten ist etwas«, sagte er.
»Vielleicht ein Zugang zur Unterwelt«, sagte Sadagar. »Man sagt, es gebe nicht nur Reiche auf der Oberfläche, sondern auch ganze Völker, die unter der Erde hausen.«
Mythor, der sich einschlägiger Erfahrungen erinnerte, schwieg.
»Wir haben jetzt wohl keine Zeit, das herauszufinden«, sagte er. »Aber vielleicht kehren wir eines Tages nach Loonkamp zurück, um dieses Geheimnis aufzuklären.«
Immer tiefer hinab wand sich der Stollen. Er war bemerkenswert sorgsam aus dem massiven Fels gehauen worden. Hunderte von Arbeitskräften waren seinerzeit dazu
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