Mythos Ueberfremdung
Amerikaner betrachteten ihre katholischen Nachbarn in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg mit noch größerem Misstrauen – von den Terroranschlägen auf die Wall Street, die 1919 und 1920 von italienischen Einwanderern verübt wurden, über den Aufstieg des Gespenstes des Faschismus im katholischen Teil Europas bis zu verstärkter katholischer Lobbyarbeit für die staatliche Finanzierung kirchlicher Privatschulen. In vielerlei Hinsicht gleicht das der Kombination von al-Qaida-Terrorismus, zunehmender politischer Tätigkeit von Islamisten im Ausland und Scharia-Gerichten, die sie später über muslimische Nachbarn die Nase rümpfen ließ.
Die Angst vor der katholischen Einwanderung ließ auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nach. Die religiösen und politischen Neigungen von Katholiken unterlagen einem tiefen Misstrauen und galten oft als Ausdruck einer fremden und feindseligen Kultur – nicht nur bei Blanshard und seinesgleichen, sondern auch bei vielen Intellektuellen. Der Soziologe Theodor W. Adorno erhielt in Nordamerika viel Zustimmung für seine These, der National sozialismus habe seine Wurzeln in den katholischen Kulturen Süddeutschlands gehabt. Der amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset folgte dieser Spur und behauptete, die große Unterstützung, die Senator Joseph McCarthy bei seiner antikommunistischen Hexenjagd aus katholischen Kreisen erhalten habe, sei der Beweis dafür, dass Katholiken eine natürliche Neigung zum Despotismus hätten. Der Sozialpsychologe David McClelland machte Karriere mit der Entdeckung, dass katholische Familien weniger Kinder mit »hoher Leistungsfähigkeit« (»high achievement potential«) hervorbrächten, was er dann zur Erklärung der relativen Armut in Italien, Spanien und Irland im Vergleich zu Großbritannien und Norwegen heranzog. Die Konsequenz aus all dem war, dass im Jahr 1949, zu der Zeit, als Blanshards Aufruf zu antikatholischen Maßnahmen heraus kam, die Auffassung, dass die katholische Einwanderung eine ernsthafte Bedrohung bilde, vielen Bürgern der Vereinigten Staaten, Kanadas und Großbritanniens als vernünftig galt. 11
Wissenschaftler und Journalisten diskutierten über die gesamten 1950er-Jahre hinweg ernsthaft über die Möglichkeit, dass die Verbindung aus katholischer Illoyalität, einer neuen Welle katholischer Einwanderer und einer ultrahohen katholischen Geburtenrate zur Wahl eines katholischen Präsidenten führen könnte, der dem Land religiöse Gesetze aufzwingen würde. Als sich Blanshards Prophezeihung 1961 mit der Amtseinführung des katholischen Präsidenten John F. Kennedy zu erfüllen schien und es dann doch nicht so weit kam wie befürchtet, ging der ganzen Ideologie anscheinend die Luft aus. Katholische Amerikaner waren, wie sich her ausstellte, einfach nur Amerikaner. Die Hysterie um die katholische Flut verschwand nahezu über Nacht aus der gesamten englischsprachigen Welt. Protestanten, Juden und Katholiken konnten sich nach den 1960er-Jahren die Hände reichen und anschließend den Moment abwarten, in dem sie sich in der Furcht vor der nächsten Welle bedrohlicher Außenseiter zusammentun konnten.
II Die jüdische Flut
D ie Juden bekamen es in westlichen Ländern jahrtausendelang mit Hass und Misstrauen zu tun und litten seit dem 12. Jahrhundert unter periodisch wiederkehrenden Ausbrüchen, die mit Ghettoisierung, Vertreibung und Massenmord verbunden waren. Die siebeneinhalb Jahrzehnte von 1870 bis 1945 standen jedoch für eine neuartige Entwicklung. Die massenhafte Auswanderung von Juden aus Osteuropa führte zu Angst und Abscheu in einem nie gekannten Ausmaß. Bis dahin waren die Juden im Westen wegen ihres vermeintlichen Erfolgs und Elitestatus – als ultimative Insider – abgelehnt worden, doch diese neuen Einwanderer sprachen andere Sprachen, hielten an seltsamen und konservativen religiösen Bräuchen fest und schienen entschlossen, sich nicht zu integrieren. Deshalb wurden sie als vollkommene Außenseiter denunziert. Antisemitische Agitatoren machten sich das Miss trauen der Öffentlichkeit zunutze und stellten alle gläubigen Juden als potenzielle Bedrohung dar. In Großbritannien und Nordamerika führte das zu Intoleranz und Ausschluss, in Mitteleuropa jedoch zu offenem Hass und Mord, der im nationalsozialistischen Holocaust gipfelte.
Der neue Nationalismus in Russland und im ehemaligen Habsburgerreich führte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu Pogromen und Vertreibungen von Juden. Diese
Weitere Kostenlose Bücher