Mythos Ueberfremdung
polnischer Juden mit einem Anteil von fast 67 Prozent übertroffen wird.« Der Psychologe Henry H. Goddard erklärte nach einer Untersuchung von Einwanderern in die Vereinigten Staaten, dass 60 Prozent der Juden und 76 Prozent der neu ankommenden jüdischen Einwanderer »schwachsinnig« seien. 6
Die Geburtenraten dieser Einwanderer waren eine weitere Quelle tiefer Beunruhigung. Der Autor Madison Grant warnte 1916 in seinem Bestseller The Passing of the Great Race (Der Untergang der großen Rasse): »Der Mensch vom alten Stamme ist aus manchen Landgebieten von diesen Ausländern hinausgedrängt worden, geradeso wie er heute buchstäblich von den Schwärmen polnischer Juden von den Straßen New York Citys verdrängt wird.« Die im Land geborenen Amerikaner beschuldigte er, sie seien verweichlicht, dekadent und schicksalsergeben. Die »Leitgedanken der Nächstenliebe« und der »weichliche Gefühlsüberschwang« derjenigen, die der Einwanderung gleichgültig gegenüberstünden, hätten zu einem »Rassenverfall« geführt, in dem weiße christ liche Amerikaner »ebenso erlöschen [werden] wie die Athener aus dem Zeitalter des Perikles und die Wikinger aus den Tagen Rollos«. 7 In Wirklichkeit waren diese neuen Juden arme, ungebildete und in ihrer eigenen Gemeinschaft lebende Einwanderer, die sich langsam, aber zuversichtlich ins amerikanische Leben integrierten. Aber dies geschah weder rasch noch mühelos. Noch 1909 waren fast 26 Prozent der amerikanischen Juden Analphabeten, im Vergleich zu 1,1 Prozent der Angloamerikaner. Aus den schäbigen Slum-Marktständen im Londoner East End, über die sich britische Zeitungen und führende Polizeibeamte erregten, wurden schließlich Marks & Spencer und Tesco; die Fischbraterbuden, die von jiddisch sprechenden Einwanderern eingeführt wurden, servierten, auch dank der Bratkartoffeln der aus Frankreich ge flüchteten Hugenotten, das britische Leibgericht Fish & Chips. Aus den mittellosen Juden der Lower East Side wurden führende Akademiker, Geschäftsleute und Politiker. Aber es dauerte oft zwei ganze Generationen, bis die osteuropäischen Juden vollständig in das Wirtschafts-, Bildungs- sowie in das politische Leben eingegliedert waren. Und bis es so weit war, wurden sie wegen ihrer offensichtlichen Rückständigkeit als Bedrohung für die Kultur bezeichnet.
Etwa ab 1880 und bis zum Zweiten Weltkrieg erschien in Europa und Nordamerika eine Reihe von Bestsellern, in denen solche Behauptungen aufgestellt wurden. Eines der ersten und einflussreichsten Werke dieser Art war La France Juive aus der Feder des französischen Journalisten Eduard Drumont, der behauptete, die jüdischen Neuankömmlinge stünden nicht loyal zu Frankreich, sondern nur zu ihrer Religion, die in Wirklichkeit eine Ideologie der Eroberung sei, und sie würden versuchen, der Republik ihre religiösen Gesetze aufzuzwingen. 7 Sein Buch gleicht im Tonfall und in der Argumentation – wie einige Kommentatoren angemerkt haben – auf verblüffende Art und Weise den im 21. Jahrhun dert erschienenen Werken von Robert Spencer oder Bat Ye’or.
Einer seiner deutschen Brüder im Geiste war der katho lische Autor August Rohling, der von 1878 bis 1903 ein Dutzend Bücher veröffentlichte, die das Judentum als eine ideologische Bewegung beschrieben, die nach weltweiter Vorherrschaft strebt und sich dabei vom Talmud leiten lässt, der nach Rohlings Ansicht die Juden anweist, Christen wie Diener zu behandeln, und Juden gestattet, Christenfrauen Gewalt anzutun und von Christen Wucherzinsen für geliehenes Geld zu verlangen. Rohling brachte die Vorstellung vom Juden als einem »inneren Feind« in Umlauf.
Einen noch stärkeren Einfluss übte Drumont auf den deutschen Journalisten Wilhelm Marr (1819–1904) aus, der bei der Aufwertung des Antisemitismus von einer Weltanschauung, die auf fromme Christen beschränkt war, zu einer in der Gesellschaft weitverbreiteten Überzeugung eine bedeutende Rolle spielte. Auch Marr beschrieb die Juden als eine illoyale, sich rasch vermehrende Fünfte Kolonne, die es darauf abgesehen hatte, der Gesellschaft, in der sie lebte, fremde religiöse Gesetze aufzuzwingen. Sein Buch Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1879) war ein großer Bestseller und erreichte bereits im Jahr der Veröffentlichung zwölf Auflagen. Er war – wie die antimuslimischen Autoren ein Jahrhundert später – umsichtig genug, zu erklären, dass er keine persönliche Feindschaft gegen einzelne Juden empfinde. Er
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