Mythos Ueberfremdung
flohen zunächst vor allem in die Hauptstädte Mittel europas. Preußen wies nach 1885 Russen und Polen aus seinem Territorium aus (die meisten von ihnen waren Juden), und die Vertriebenen flohen weiter nach Westen. Die Zahl der jüdischen Auswanderer aus Osteuropa stieg von 1881 bis 1899 von 3 000 auf 50 000 pro Jahr, und 1914 waren es 135 000. Viele von ihnen gingen nach Deutschland und Frankreich. Noch sehr viel mehr traten eine Seereise an, um noch weiter weg zu kommen. In den 1890er-Jahren evakuierten sechs Schiffe pro Woche Juden aus den baltischen Staaten. Die Ver einigten Staaten und Kanada waren oft das eigentliche Ziel, aber sehr viele Passagiere gingen bereits in Großbritannien von Bord. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatten sich min destens 120 000 Juden in britischen Städten niedergelassen. 1
Die neuen Einwanderer veränderten das öffentliche Bild von den Juden, wie William Brustein in seiner Geschichte des modernen europäischen Antisemitismus ausführt. Der herkömmliche Antisemitismus war in dem auf das Zeitalter der Aufklärung folgenden Jahrhundert auf dem Rückzug gewesen, weil die Kirche die Macht zu negativen Sanktionen verloren hatte und die Juden rechtlich und politisch anerkannt wurden. (In Großbritannien wurde sogar mit Benjamin Disraeli ein Sohn jüdischer Eltern zum Premierminister gewählt.) Aber die jüdische Einwanderungswelle schuf eine neue Wahrnehmung, die sich unter Christen wie unter den bereits etablierten Juden gleichermaßen schnell verbreitete:
»Die neuen jüdischen Einwanderer, die vor allem aus Russland und dem Habsburgerreich kamen, unterschieden sich in Kleidung, Sprache und Gebräuchen von den stärker assimilierten sephardischen Juden. […] Es war nicht einfach die plötzliche und dramatische Zunahme der jüdischen Bevölkerung, sondern es waren vielleicht in stärkerem Maß die seltsamen Bräuche und das Erscheinungsbild der osteuropäischen Juden oder Ostjuden, die die Wahrnehmung der Juden als Volksgruppe im Westen beeinflussten. Die Neuankömmlinge, aschkenasische Juden aus dem östlichen Teil Mitteleuropas, entstammten überwiegend einer isolierten, vormodernen Kultur, in der sie wenig Interesse an der Übernahme der sie umgebenden Verhältnisse gezeigt hatten. […] Die osteuropäischen Juden und ihre westeuropäischen Glaubensbrüder und -schwestern unterschieden sich ganz erheblich voneinander. Die osteuropäischen Juden waren meist wenig assimiliert, sprachen häufiger Jiddisch und neigten eher zur orthodoxen Glaubensrichtung, schlossen weniger Mischehen, hatten eine höhere Geburtenrate, zählten in ihrer Berufstätigkeit eher zur unteren Mittelschicht oder zur Arbeiterschaft und waren häufiger Anhänger des Zionismus oder Sozialismus. […] Das Bild von den osteuropäischen Juden, das sie als fanatisch, rückständig, abergläubisch und unaufgeklärt erscheinen ließ, ging von nicht jüdischen und jüdischen Quellen aus.« 2
In London und New York wurden die jüdischen Einwandererviertel rasch als Parallelgesellschaft wahrgenommen, deren äußeres Erscheinungsbild, Gebräuche und Umgang mit Frauen finsteren Zeiten entsprungen zu sein schienen. Reform- und liberales Judentum hatten sich erst in jüngerer Zeit in wohlhabenderen Gegenden des Westens entwickelt und waren den Hunderttausenden von Neuankömmlingen, deren Glaube streng orthodox und konservativ war, mit Sicherheit nicht bekannt. Ihre dunkle Kleidung und Kopfbedeckungen wurden schon bald zu Symbolen für einen kulturellen Konflikt.
Robert Winder schreibt in seiner Geschichte der Einwanderung nach Großbritannien über die Entwicklung in London: »Die jüdischen Wohnviertel entwickelten rasch ein verblüffendes neues Erscheinungsbild: schwarze Hüte, langes Haar, Bärte, in Jiddisch gehaltene Schilder über den Läden, Klangfetzen (für einheimische Ohren) seltsamer, fremder Musik aus den Zimmern im ersten Stock und koschere Metzger. Sie waren, mit anderen Worten, auffällig und isoliert, sammelten sich um die ›Hebrot‹ – kleine, unabhängige religiöse Gesellschaften, die sich nicht um den Rest der Welt kümmerten.« Die neuen Juden wurden mit Kriminalität und Gewalt in Verbindung gebracht, obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass die Verbrechensraten unter Juden höher waren als in irgendwelchen anderen armen Stadtvierteln. Als die Morde von »Jack the Ripper« 1888 bekannt wurden, gingen weite Teile der Öffentlichkeit und der Medien davon aus, dass »er einer dieser
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