Mythos Ueberfremdung
Herkunft waren. Der Historiker Ray Billington schrieb, dieses Verhalten habe »den Eindruck erzeugt, dass die Einwanderer alle in Übereinstimmung mit einem Oberkommando handelten und dass dieses Kommando bei der katholischen Kirche lag«. 9 Viele Katholiken trugen außerdem einen inneren Konflikt in der Frage aus, ob sie sich nun in die Gesellschaft integrieren sollten, in der sie lebten, oder sich zusammenkuscheln sollten, um ihre Familien vor einer sündhaften, bedrohlichen Welt zu schützen. Viele Katholiken in Europa machten sich Ende des 19. Jahrhunderts den Liberalismus oder Gallikanismus zu eigen – die Überzeugung, dass die Bräuche des neuen Heimatlandes Vorrang vor den Lehren der Kirche genießen sollten –, während es in den Vereinigten Staaten eine Bewegung gegen solche Modernisierungstendenzen gab. Zwei katholische Historiker hielten fest: »Die Katholiken in Amerika waren im 19. Jahrhundert lange Zeit die unassimilierten, zuweilen gewalttätigen ›in religiöser Hinsicht Ande ren‹. Oft sprachen sie kein Englisch oder besuchten keine öffentlichen Schulen. Einige ihrer religiösen Frauen – die Nonnen – trugen auffällige Kleidung. Ihre religiösen Bräuche und Überzeugungen – vom Rosenkranz bis zur Transsubstantiation – kamen vielen Amerikanern wie abergläubischer Unsinn vor. Am meisten störte, dass die Katholiken nicht genug Dankbarkeit zu zeigen schienen für die Möglichkeit, Kirchen zu bauen und ihren Glauben in einer Demokratie zu praktizieren, für Rechte also, die Protestanten und Juden in katholischen Ländern manchmal verweigert wurden, vor allem in Italien.« 10
Pater Bernard Hafkenscheid, der führende Jesuit in Amerika, warnte seine Anhänger vor zu starker Assimilation mit dem Hinweis, dass »wir Kinder der Kirche und der Wahrheit sind; unsere Widersacher sind Ketzer oder Ungläubige; deshalb ist es unsere Pflicht, in die Offensive zu gehen und die Irrlehren des Protestantismus und der Gottlosigkeit öffentlich bloßzustellen.« Die zweite Generation katholischer Einwanderer entwickelte – wie zukünftige religiöse Minderheiten auch – oft Spielarten des Konservativismus und Fundamentalismus, die in ihren Herkunftsländern fremdartig gewirkt hätten. Das erwies sich als vorübergehende Erscheinung (die meisten Katholiken sind heute liberal eingestellt), aber bei jenen ersten Einwandererwellen bestätigte es tendenziell einige der schlimmsten Klischees, die über Katholiken verbreitet wurden.
Die Regierung in Washington gab 1911 als Reaktion auf die zunehmende öffentliche Besorgnis eine noch nie da gewesene Summe für die Dillingham-Kommission zur Einwanderung aus. Der 41 Bände umfassende Bericht dieses Gremiums hielt zwar fest, dass die Vereinigten Staaten ganz und gar eine Einwanderernation seien, schied die Bevölkerung aber fein säuberlich in die Nachkommen der »alten Einwanderung« (die, wie es im Bericht hieß, »weitgehend eine Bewegung von Siedlern war, die aus den fortschrittlichsten Teilen Europas kamen, um sich in der Neuen Welt eine Heimat zu schaffen«) und der »neuen Einwanderung«, die zu großen Teilen aus Katholiken und Juden bestand (sie war »weitgehend eine Bewegung ungelernter Arbeiter, die – zu großen Teilen zeitlich begrenzt – aus den weniger fort schrittlichen und weniger modernen Ländern Europas gekommen waren« und sich »zunächst in städtischen ›Kolonien‹ ihrer eigenen Rasse ansiedeln, […] in denen der Einwanderer von amerikanischen Einflüssen abgeschnitten war, und die deshalb eine ernsthafte Bedrohung für die Gemeinschaft sind«). Die Kommission kam zu dem Schluss, dass Radikalismus und Kriminalität keine vorübergehenden Phänomene der Einwanderung, sondern vielmehr in mehreren katholischen »Rassen« angelegt seien, vor allem in den Italienern.
Die Arbeit der Kommission führte zur Verabschiedung zweier Bundesgesetze, die das Gesicht Amerikas auf dramatische Weise veränderten: Der Emergency Quota Act von 1921 und der Immigration Act von 1924 sahen zum ersten Mal Beschränkungen der Einwandererzahlen nach Herkunftsländern vor. Beide Gesetze verboten die Einwanderung aus Asien und Afrika und reduzierten die Zahl der Italiener und Juden, die in die Vereinigten Staaten kommen durften, dramatisch. Die Zahl der Italiener fiel von 200 000 im Jahr 1910 auf nur noch 4000 nach 1924. Doch die Ängste blieben ungemindert und wurden in den folgenden Jahrzehnten durch die weltweit zunehmende Gewalt noch verstärkt. Die
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