Mythos Ueberfremdung
seinen Amtszeiten als (den Liberalen angehörender) Premierminister ein ungeheuer populäres Pamphlet, The Vatican Decrees, in dem er die Ansicht vertrat, die Katholiken in Großbritannien könnten nicht gleichzeitig dem britischen Staat und dem Papst (den der Vatikan im Jahr 1870 für unfehlbar erklärt hatte) ihre Loyalität erweisen. Der Katholizismus, schrieb Gladstone, sei kein religiöser Glaube, sondern »eine asiatische Monarchie: nichts als ein schwindelerregender Höhepunkt des Despotismus und eine geistlose Ebene der Unterwürfigkeit«. Die Katholiken würden entschlossen daran arbeiten, die Freiheiten in Großbritannien durch Autoritarismus zu ersetzen, ihren »direkten Antagonismus zu den liberalen Zeitströmungen« durchzusetzen und ihre »Verbrechen gegen die Freiheit unter einer erstickenden Weihrauchwolke« zu verbergen. Sein Pamphlet war wenig später auch in den Vereinigten Staaten erfolgreich, wo die katholische Einwanderung, bis dahin nur die Zielscheibe von Wanderpredigern, populistischen Bewegungen und Spinnern aller Art, urplötzlich zu einer Quelle ernster Besorgnis für die Eliten des Landes geworden war.
Amerika war natürlich immer ein Einwanderungsland, aber die früheren Wellen waren mit überwältigender Mehrheit protestantisch gewesen. Die Mehrheit der Neuankömm linge aus Irland hatten bis dahin die schottisch-irischen Protestanten ausgemacht; zu ihnen gesellten sich Deutsche und Skandinavier, ihrerseits Protestanten und ebenfalls nach und nach akzeptiert. Etwa ab 1880 kamen jedoch immer mehr Einwanderer nach Nordamerika, und eine wachsende Zahl stammte aus Süd- und Osteuropa. Im Jahr 1896 und auch in den folgenden Jahrzehnten stellten die orthodoxen Christen, die Juden und ganz besonders die Katholiken die Mehrheit unter den Einwanderern. Noch 1882 waren nur 13 Prozent der Einwanderer in die Vereinigten Staaten aus Süd- und Osteuropa gekommen. Bis zum Jahr 1907 war ihr Anteil auf 81 Prozent gestiegen, und der jährliche Zustrom von Einwanderern hatte sich nahezu verdoppelt, von 648 000 auf 1,2 Millionen. Die Katholiken waren mit Abstand die größte Gruppe. Allein aus Italien kamen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts jährlich 200 000 Einwanderer. Im Jahr 1920 waren 13 Prozent der amerikanischen Bevölkerung im Ausland geboren worden, und in mehreren der Gründerstaaten standen die Katholiken kurz davor, die Mehrheit der Bevölkerung zu stellen.
Francis Walker, der Leiter der Statistischen Bundesbehörde der USA, sorgte sich im Jahr 1896, diese neue, von Katholiken dominierte Einwanderungswelle sei »eine Sache, die ein intelligenter Patriot nur mit tiefer Besorgnis und Beunruhigung betrachten kann. Es sind erschöpfte Menschen aus erschöpften Rassen, die für die schlimmsten Fehlschläge im Existenzkampf stehen.« Walker war zu der Überzeugung gelangt, dass die Katholiken (und Juden) mit ihren hohen Geburtenraten die amerikanische Bevölkerung überschwemmen würden, weil die im Land geborenen Amerikaner zu selbstgefällig und moralisch zu hinfällig geworden waren, um genug Kinder in die Welt zu setzen. 6
Die sich rasch fortpflanzenden Katholiken und Juden wurden als große Bedrohung angesehen, vor allem, weil die im Land geborenen Amerikaner scheinbar so selbstgefällig geworden waren und in den sich entwickelnden Städten ein Leben in relativer Bequemlichkeit führten – bei sinkenden Geburtenraten. Sogar Präsident Theodore Roosevelt zeigte sich beunruhigt, er ermahnte die im Land geborenen Amerikanerinnen, »eine gute Ehefrau und eine gute Mutter« zu werden, die »willens und in der Lage ist, die erste und größte Pflicht der Frauen zu erfüllen, nämlich gesunde Kinder mit einem gesunden Körper, Verstand und Charakter so aufzuziehen, wie sie aufgezogen werden sollten, und in einer so großen Zahl, dass die Rasse insgesamt zu- und nicht abnimmt«. Eine sehr große Zahl von Amerikanern las die Warnung, die der Anthropologe Madison Grant in einem Dutzend Ausgaben seines wissenschaftlich daherkommenden, aber rassistischen Werks The Passing of the Great Race (Der Untergang der großen Rasse) aussprach: »Die Folgen der unbehinderten Einwanderung zeigen sich klar in dem raschen Sinken der Geburtenzahl bei den einheimischen Amerikanern, weil die ärmeren Klassen vom Ansiedlerstamme nicht Kinder in die Welt setzen wollen, um auf dem Arbeitsmarkt mit Slowaken, Italienern, Syrern und Juden in Wettbewerb zu treten.«
Zu den eifrigsten Gegnerinnen der katholischen Ein
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