Mythos Ueberfremdung
wanderung zählten auch die Vorkämpferinnen des Feminismus und Aktivistinnen für das Frauenwahlrecht Ende des 19. Jahrhunderts. Sie warnten davor, dass die strikte und auf die Ungleichheit der Geschlechter setzende katholische Doktrin die Frauen einsperre und dass die katholische Einwanderung den Kampf um die Gleichstellung der Frau zurückwerfe – es klang wie eine Vorwegnahme der ein Jahrhundert später vorgebrachten Argumente antimuslimischer Feministinnen wie Ayaan Hirsi Ali. Elizabeth Cady, eine der Gründerinnen der amerikanischen Frauenrechtsbewegung, schrieb: »Einem Ausländer und Katholiken ist es nicht möglich, die Großartigkeit der amerikanischen Idee der indi viduellen Freiheitsrechte in sich aufzunehmen. […] Der menschliche Geist pendelt ständig zwischen den Extremen Autorität und Individualismus hin und her, und wenn das Erstere – die katholische Idee – in den Köpfen der Menschen verankert wird, läuten wir den amerikanischen Freiheiten die Totenglocke.« 7
Die Drohung einer Übernahme durch katholische Einwanderer und Gewalt wurde schon bald zu einem wichtigen Thema bei landesweiten Wahlen. Rutherford B. Hayes, der 19. Präsident der Vereinigten Staaten, katapultierte sich mit einem Gouverneurswahlkampf in Ohio in die nationale Politik. Er kritisierte seine Gegner von den Demokraten scharf, weil diese Gesetze verabschiedet hatten, die katholischen Priestern Besuche in Staatsgefängnissen und Pflegeanstalten erlaubten, das sei, wie er beharrlich vortrug, der erste Schritt zu einem Angriff auf grundlegende Freiheiten. James Garfield, sein Nachfolger im Weißen Haus, äußerte sich in ähnlicher Weise und bezeichnete die katholische Einwanderung als einen Angriff auf die »moderne Kultur«. 8 Persönlichkeiten des literarischen Lebens schlossen sich, angeführt von Ralph Waldo Emerson, der Kampagne an. Emerson schrieb: »Ihr politischer Charakter macht die katholische Kirche mit unseren Institutionen unvereinbar & hier unwillkommen.« Die Redaktionen der New York Times, der Chicago Tribune, von Harper’s Weekly und The Nation veröffentlichten allesamt ernste Warnungen vor der katholischen Bedrohung.
Die Panik angesichts der katholischen Einwanderung trat zwar auf der Linken wie auf der Rechten auf, sie war aber alles andere als ein einhelliges Gefühl. Unter den Politikern, die nicht vergessen hatten, dass auch ihre eigenen Familien einst einer ähnlichen einwandererfeindlichen Panikmache ausgesetzt gewesen waren, kam es zu einer Gegenreaktion. Grover Cleveland, der 22. (und 24.) Präsident, reagierte in den 1880er-Jahren auf die Aufforderung, ein Gesetz zu unterschreiben, das von Einwanderern fließende Englischkenntnisse verlangte, mit der Bemerkung: »Die Zeit, in der dasselbe über Einwanderer gesagt wurde, die heute, zusammen mit ihren Nachkommen, zu unseren besten Bürgern zählen, ist noch gut in Erinnerung.« Auch solche Meinungen, die sich für Einwanderer einsetzten, lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder auf. Es war die Zeit, die den Ausdruck vom »Schmelztiegel« (»melting pot«) und Vorstellungen vom multiethnischen Pluralismus hervorbrachte, die erst nach den 1960er-Jahren mehrheitsfähig wurden. In dieser Ära sah es zeitweise so aus, als würde eine tolerante Haltung weite Verbreitung finden.
Aber diese offeneren Einstellungen konnten noch nicht mit der Furcht vor politischem Extremismus und Gewalt unter den katholischen Einwanderern konkurrieren, die aufs Neue verstärkt wurden, als ein eingebürgerter Einwanderer aus einer katholischen osteuropäischen Familie, der radikale Anarchist Leon Czolgosz, im Jahr 1901 den Präsidenten William McKinley ermordete. Der Mordanschlag fiel mit einer Zunahme radikaler terroristischer Anschläge und Unruhen zusammen, die oft auf das Konto italienischer und osteuropäischer Katholiken gingen und Ende der 1910er-Jahre in der Serie anarchistischer Bombenanschläge kulminierten, die von italienischen Katholiken begangen wurden. Die Motive für diese Gewaltakte lagen in Arbeitskonflikten und politischer Wut und ganz bestimmt nicht auf religiösem Gebiet, aber die Öffentlichkeit und führende Politiker deuteten sie als unmittelbare Konsequenz der Einwanderung aus den despotisch regierten und von Gewalt heimgesuchten Ländern der katholischen Welt. Den Katholiken wurde außerdem misstraut, weil sie ein politisches Programm zu verfolgen schienen. Sie neigten zur Abstimmung im Block, ob sie nun deutscher, italienischer oder irischer
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