Mythos Ueberfremdung
lobte sogar die Kraft ihres Familienlebens und ihren festen religiösen Glauben und verglich beides mit einer geschwächten, erschöpften deutschen Gesellschaft, die in der Gefahr schwebe, überwältigt zu werden. Die Juden, schrieb Marr, seien grundsätzlich nicht in der Lage, sich in einer europäischen Gesellschaft zu assimilieren, und folgten den Geboten ihrer Religion, die sie anweise, für die »Verjudung« der Gesellschaften zu sorgen, in denen sie lebten. 8
Diese Bestseller fanden schon bald politischen Widerhall. In den Vereinigten Staaten startete die Immigration Reform League (IRL), zu deren Gründern auch Lawrence Lowell gehörte, der Präsident der Universität Harvard, eine Kampagne zur Eindämmung der jüdischen Flut. 9 Ihre Lobbyarbeit half bei der Einleitung der Gesetzgebungsprogramme, die schließlich zu den Einwanderungsbeschränkungen der 1920er-Jahre führten, und begünstigte die weitverbreitete Ablehnung jüdischer Flüchtlinge vor Beginn und während des Holocaust. In Großbritannien, wo vergleichbarer öffentlicher Druck herrschte, wurde 1905 ein neues Ausländergesetz (Aliens Act) verabschiedet. In diesem Gesetz kam das Wort »Jude« zwar gar nicht vor, aber, schreibt Kushner, »es ist klar, dass der Hauptzweck des Gesetzes war, den Zustrom osteuropäischer Einwanderer nach Großbritannien zu stoppen.« Das Gesetz trug nahezu unmittelbar zur gesteigerten Legitimierung des Antisemitismus bei, und die Jahre von 1905 bis 1914 waren für die Intensität ihrer gegen die Juden gerichteten Rhetorik und Politik bekannt. Das Gesetz führte außerdem während des Ersten Weltkriegs zur Deportation von 20 000 Ausländern und zur Internierung weiterer 32 000 Menschen, unter denen auch sehr viele Juden waren. 10
In Deutschland vermischten sich diese populären neuen Ideen mit bedenklichen sozialen und politischen Rahmenbedingungen und leiteten so die gefährlichste Phase des Antisemitismus in der Geschichte ein. Es war keineswegs unvermeidlich, dass Deutschland schließlich zum europäischen Zentrum des Hasses auf die Juden wurde. In Brusteins Analyse dieser Zeit kann man nachlesen, in ihr habe es eine Verbindung »sich verschlechternder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, zunehmender jüdischer Einwanderung aus Ost- und Mitteleuropa sowie der wachsenden Beliebtheit der revolutionären Linken gegeben, die mit der Wahrnehmung einer Überrepräsentation der Juden aufseiten der Linken verbunden war«. Der Antisemitismus entwickelte sich von einem bigotten Hintergrundrauschen aus der Zeit vor 1870 zur offenen und breiten Unterstützung für den Massenmord der 1930er- und der ersten Hälfte der 1940er-Jahre. Deutschland hatte Ende 1923 sein erstes Pogrom im 20. Jahrhundert erlebt: drei von Plünderungen und Übergriffen gegen die osteuropäischen jüdischen Einwandererviertel in Berlin bestimmte Tage. 11
Das Bild vom Juden als einem unmöglich zu assimilierenden Außenseiter war nach 1917 mit der Vorstellung vom Juden als entscheidendem Unterstützer des Radikalismus und der gewaltsamen Revolution verschmolzen – was tödliche Konsequenzen haben sollte. In den Jahren nach der Oktoberrevolution verbreiteten sich die Protokolle der Weisen von Zion – eine von einem russischen Beamten verfasste Fälschung, in der das Judentum als eine politische Bewegung beschrieben wird, die nach der Weltherrschaft strebt – wie eine Seuche über die westlichen Länder, und die Antisemiten, auch Adolf Hitler, bezogen sich gerne auf diesen vermeintlichen Beweis dafür, dass das Judentum keine Religion, sondern eine Ideologie der Eroberung war. Deutsche Politiker jüdischen Glaubens, die in jener Zeit ein Amt innehatten, vor allem die Sozialdemokraten unter ihnen, achteten sehr genau darauf, in allen anstehenden Fragen besonders patriotisch aufzutreten, konnten aber dem Vorwurf der Illoyalität nicht entgehen. Die angeblich jüdische Führungsspitze gewalttätiger kommunistischer Bewegungen wurde als Beweis angeführt. 8 Brustein schreibt hierzu: »Die überproportionale Präsenz von Juden in der neu entstehenden kommunistischen Bewegung und die zunehmende Popularität der Protokolle gaben dem Vorwurf Auftrieb, es bestehe eine jüdische Verschwörung, die Unordnung säen wolle, um die Übernahme der Weltherrschaft durch die Juden vorzubereiten.« Adolf Hitler machte in rechten Kreisen erstmals mit der Behauptung auf sich aufmerksam, die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg sei das Ergebnis eines jüdischen
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