Mythos Ueberfremdung
1,7 zurück gegangen ist –, der mit einer gewaltigen Verstädterung verbunden ist, mit zunehmender Alphabetisierung und Bildung (vor allem der Frauen) und einer Verschiebung des Hei ratsalters der Frauen (es liegt heute im Iran bei durchschnittlich 28 Jahren, im Vergleich zu 13 Jahren 1979). Dahinter steht eine neue Kultur, die auf Individualismus beruht und inzwischen auch unter den Ärmsten zu finden ist. Das eigene Leben wird heute auch bei frommen Gläubigen nicht mehr stillschweigend von religiösen Traditionen bestimmt wie früher, sondern zunehmend von Individualismus und persönlichen Entscheidungen. Die Menschen entscheiden sich für die Religion – oder gegen Religion – als etwas, dem man sich aus persönlichen oder politischen Gründen zuwendet, weil sie nicht mehr so allumfassend ist, dass sie über alle Aspekte ihres Lebens bestimmt.
Der Islamexperte Olivier Roy bezeichnet dieses weltweit zu beobachtende Phänomen als »Dekulturation« der Religion: Der Glaube ist nicht mehr die einzige lenkende Kraft in der Kultur, sondern nur noch ein persönliches Identifizierungsmerkmal und eine politische Entscheidung. Das kann die Religion konservativer und dogmatischer machen, aber sie ist nicht mehr universell oder außer Frage stehend. »Fundamentalismus und Individualisierung können zusammengehen, und das erklärt, warum eine demokratische Bewegung inmitten einer Welle der ›Re-Islamisierung‹ enormen Zulauf bekommen kann«, schreibt Roy. »Das neue Primat des Individuums, keine liberale theologische Reformation, ermöglicht es der neuen Generation, Glaube und Demokratie zu verbinden.« 1 Wenn die Anführer der Muslimbruderschaft oft Ähnlichkeiten mit christlichen amerikanischen Politikern wie Rick Santorum aufzuweisen scheinen, so ist der Vergleich nicht nur oberflächlich: Beide sind Teil einer Bewegung weg vom Glauben als alles kontrollierende soziale Kraft und hin zum Glauben als politische Entscheidung, Teil einer kulturell konservativen Bewegung inmitten einer Reihe anderer politischer Entscheidungsmöglichkeiten.
»Eine solche Politisierung des Religiösen bedeutet immer eine Säkularisierung«, schreibt Roy, »weil es sich auf die Alltagspolitik einlässt, weil es jedem Zugehörigkeit und Freiheit zugleich zuschreibt. Das Religiöse in politischer Form ist zwischen zwei Imperativen gefangen: Unglauben darf nicht sein, aber der Glaube kann nur individuell sein; ein kollektiver Glaube ist deshalb unvorstellbar, während es früher ein kollektives Normensystem gegeben hatte. Das Religiöse in politischer Form funktioniert nach dem Prinzip, dass jeder gläubig sein muss, aber es kann den Glauben seinerseits nicht gewährleisten und muss deshalb dafür sorgen, dass zumindest der Schein gewahrt wird, was wiederum in der Folge verhindert, dass sich das Politisch-Religiöse als ein Glaube präsentieren kann, der von der ganzen Gemeinschaft geteilt wird […] Die Säkularisierung bringt das Religiöse hervor. Es gibt keine ›Rückkehr‹ des Religiösen, sondern eine Veränderung. Diese Veränderung ist nichts weiter als ein Augenblick, ein Moment: Sie führt nicht notwendigerweise in ein neues religiöses Zeitalter.« 2 Ganz ähnlich wie die fundamentalistische christliche Politik ist dies etwas, was kommt und geht oder sich während eines Übergangs zu etwas anderem intensiviert, aber es ist kein unvermeidlicher oder bestimmender Aspekt der jeweiligen Gesellschaft mehr.
Die islamistischen Parteien, die jetzt an die Macht gelangen, sind keine Umkehrung dieses neuen Individualismus, sondern eher dessen Produkt. Islamistische Parteien wären unvorstellbar und unnötig gewesen, solange der Islam eine unhinterfragte bestimmende Kraft in der Familie und im sozialen Leben war. Sie tauchten erst als Reaktion auf die Verschiebung des Islam auf den Marktplatz der Ideen auf. Der Islam war zum ersten Mal zu etwas geworden, für das man sich entscheidet, und das ermöglichte es ihm, zur politischen Option zu werden. Der Preis dafür war, dass er nur zu einer von vielen politischen Optionen wurde. Die Demografen Youssef Courbage und Emmanuel Todd schreiben in ihrer wichtigen Untersuchung zur Modernisierung muslimischer Gesellschaften: »Der Grundwiderspruch des Islamismus besteht darin, dass seine Führer sich als die Hüter der Tradition verstehen, obwohl hinter der Welle, auf der sie schwimmen, eine vorwärts gerichtete Revolution in den Einstellungen steht. Auf ihren politischen Sieg folgt unweigerlich ihre
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