Mythos Ueberfremdung
Unterdrückung potenzieller politischer Gegner, die häufig führende Repräsentanten des Islam waren.
Die neuen Herrscher in den ehemaligen Kolonien hielten sich meist lange an der Macht, in der Regel unter Verzicht auf Demokratie. Um die Versorgung der Menschen zu sichern, setzten sie auf die Zuwendungen durch die Supermächte des Kalten Krieges und die Ausbeutung von Bodenschätzen. Sie bedienten sich bei den großen Ideologien der Zeit: Sozialismus, Kollektivismus, Modernisierung, später dann die Liberalisierung der Wirtschaft – all das wurde von den Autokraten zunächst angenommen und dann übernommen, sodass die Menschen in den muslimischen Ländern gegen Ende des 20. Jahrhunderts dazu neigten, diese Ideen ebenso wie das allgemeine Konzept der Säkularisierung mit ihren Diktatoren in Verbindung zu bringen.
Diese Staatschefs kehrten auch die ethnischen Identitäten unter den Teppich. Der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser (1918–1970) drängte in den 1950er- und 1960er-Jahren auf eine »panarabische« Föderation, zu der sich – mit halbherziger Unterstützung durch andere arabische Autokraten – die Staaten mit arabischer Bevölkerungsmehrheit in Nordafrika und im Nahen Osten zusammenschließen sollten. Das augenfällige Chaos und die Korruption in dieser Föderation und später dann die militärische Niederlage Ägyptens, Syriens und Jordaniens gegen Israel im Sechstagekrieg von 1967 diskreditierten jedoch die ganze Idee und ließen viele Bürger von ihrer ethnischen Identität als Araber abrücken.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts brachten die Worte »libe ral«, »westlich«, »Markt« und »säkular« die Einwohner Kai ros in Rage. Sie hatten diese Worte von den Männern, deren Fotos an jeder Wand hingen, in endlosen Wiederholungen zu hören bekommen. Die postkolonialen Herrscher Ägyptens hatten ihr Land – und in zwei Dutzend Ländern der Region herrschten ähnliche Zustände – drei Generationen lang in einem rückständigen, halb entwickelten Übergangsstadium festgehalten. Die arabischen Staaten erzielten in der Zeit von 1980 bis 2004 trotz reichlich vorhandener Ressourcen ein jährliches Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent – den schlechtesten Wert aller Regionen weltweit. Ein Fünftel ihrer Einwohner lebte in extremer Armut, mit Familieneinkommen von weniger als zwei Dollar täglich. Außerhalb der arabischen Welt fiel diese Verbindung von Nationalismus, Korruption und Armut manchmal noch schlimmer aus: Pakistan und Afghanistan erlebten eine rückläufige Entwicklung, und Bangladesch und der muslimische Teil Südostasiens verharrten jahrelang in Stagnation und Nullwachstum.
Eine der wenigen Ausdrucksformen des Andersdenkens, die nicht gründlich diskreditiert und (wie die nationalistischen und ethnischen Bewegungen) zu einer Quelle der Schande geworden waren, stellte die Religion dar. Die Muslimbruderschaft und ihre religiös-konservativen Ableger waren von den postkolonialen Regimen so nachhaltig angegrif fen, zerschlagen, verbannt, eingesperrt, gefoltert und verboten worden, dass sie fast die einzigen Organisationen waren, die vom Ruch der Korruption verschont blieben. Sie waren außerdem oft die einzigen Anbieter von sozialen Hilfsdiensten, Schulen und Krankenversorgung in den Slums gewesen, in denen Millionen von Menschen wohnten. Als die arabischen Wählerinnen und Wähler nach den großen Aufständen des Jahres 2011 bei den ersten Wahlen ihre Stimme den Islamisten- und Salafisten-Parteien gaben, votierten sie damit nicht für eine Rückkehr zu den Werten eines vergangenen Jahrhunderts, sondern entschieden sich einfach nur für die glaubwürdigste und verlässlichste Stimme der Modernisierung und Inklusion, die ihnen bekannt war.
Unter der Oberfläche dieser religiös-politischen Dramen vollziehen sich tief greifende Veränderungen. Die dominante Kraft in den meisten muslimischen Ländern ist heute nicht der islamische Glaube, sondern eher die Modernisierung und Enttraditionalisierung des Familien- wie auch des eigenen Lebens. Auf die von Islamisten regierten Länder trifft dies genauso zu. In den bevölkerungsreichsten muslimischen Ländern der Welt vollzogen sich im Lauf der letzten 20 Jahre all die persönlichen und verhaltensbezogenen Veränderungen, die mit der europäischen Aufklärung verbunden werden. Diese Länder haben einen unglaublich schnellen demografi schen Wandel erlebt – man bedenke, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie im Iran von 7 auf
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