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Mythos Ueberfremdung

Mythos Ueberfremdung

Titel: Mythos Ueberfremdung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doug Sounders
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ideale »unterste Sprosse« auf der Leiter des sozialen Aufstiegs und ermöglichen den Menschen einen guten Start, aber es fehlt dort üblicherweise eine zweite oder dritte Sprosse. Diese Viertel sind oft räumlich isoliert und vom Verkehr abgeschnitten. Die Schulen sind fast immer schrecklich, weil die rigiden, unflexiblen Schulsysteme des Kontinents schlecht auf neue Einwanderer eingestellt sind und weil negative Anreize dafür sorgen, dass sich die Verhältnisse in den Schulen der ärmsten Viertel weiter verschlechtern. 9
    »Neunzig Prozent dieser Einwanderer haben in ihren Heimatländern überhaupt keine Schulbildung erhalten, nicht einmal in ihrer Muttersprache«, sagt Jamal. »Sie wollen erfolgreich sein, wissen aber nicht das Geringste über Assimilation. Sie haben keine Ahnung, wie sie auf diesem Weg beginnen sollten. Und wenn die Eltern nicht wissen, welche Art von Ausbildung ihre Kinder in einer multikulturellen Gesellschaft brauchen, werden diese Kinder in der Armut enden und sich nicht eingliedern. Mein Vater wusste gar nichts über meine Schule, meine Freunde – er konnte gar nicht wissen, was ich außerhalb des Hauses tat. Ich war derjenige, der die Dokumente für den Hauskauf übersetzte. Dass ich es geschafft habe, war reines Glück und Zufall. Die Gefahr, der meine Brüder, meine Schwestern und ich selbst ausgesetzt waren – wir haben das alles mitbekommen.«
    Die zweite Generation fällt, vor allem in Europa, manchmal aus dem gesellschaftlichen Mainstream des westlichen Lebens heraus, und das sollte für die Regierungen ein Anlass zu ernster Besorgnis sein. Aber es ist klar, dass der Islam nicht der Grund für den verlorenen Ehrgeiz ist, sondern manchmal ein Symptom dafür. Diese jungen Leute (meist sind sie männlich) sind weit davon entfernt, als Agenten einer politisch-theologischen Verschwörung zur Beherrschung westlicher Gesellschaften zu handeln, sondern gerieten in diese Lage, weil sie überhaupt keinen Plan irgendwelcher Art hatten. Sie wurden vergessen oder im Stich gelassen und greifen nach den einfachsten verfügbaren Mitteln der Selbstbestärkung. Der größte Fehler, den wir begehen könnten, wäre, diese Verzweiflung mit irgendetwas Bedrohlicherem zu verwechseln. Diese Einwanderer sind, ganz allgemein gesprochen, auf der Suche nach einem modernen und wohlhabenderen Leben. Wir würden das vielleicht besser verstehen, wenn wir über die tief greifenden Veränderungen, die sich in ihren Herkunftsländern vollziehen, gut Bescheid wüssten.
    9 Die Zuweisung von Schülern zu allgemeinbildenden oder praxisorientierten Bildungswegen in jungen Jahren und die Praxis, erfolglose Schüler ein Jahr wiederholen zu lassen, ist für Einwandererkinder besonders schädlich und veranlasst sie dazu, die Schule ohne Abschluss zu verlassen. Angloamerikanische »Teamteaching«-Konzepte mit vielfältigen Lernniveaus für jede Altersklasse wären hier eine wichtige Verbesserung.

III Die Privatisierung der Religion
    M uslime, die in den Jahrzehnten vor den 1950er-Jahren in Kairo, Karachi oder Dhaka lebten, waren britische Unter tanen. Wer in Tunis, Algier oder Beirut lebte, stand unter französischer Herrschaft. Und lebte man in Jakarta, war die eigene Identität niederländisch. Der einzige Sachverhalt, der die »muslimische Welt« einte (auch wenn die Vorstellung von einer muslimischen Welt nahezu in Vergessenheit geraten war), war die Kolonialisierung. Den Großteil der letzten zwei Jahrhunderte verbrachten nahezu alle Menschen islamischen Glaubens als Bürger in Ländern, die von weit entfernten, hauptsächlich westlichen Mächten beherrscht wurden. Manche waren loyal und beklagten sich nicht, aber viele waren mit diesem Zustand unzufrieden.
    Diese Unzufriedenheit fand ihren machtvollsten Ausdruck im Nationalismus. Muslime protestierten meistens gegen den britischen, französischen oder niederländischen Imperialismus, indem sie für ihre nationale Unabhängigkeit und eine nationale – nicht für eine religiöse – Identität kämpften. Als die Unabhängigkeit erreicht war, übernahmen diese na tionalistischen Kämpfer – einige von ihnen mit Unterstützung des Militärs, andere mithilfe populistischer oder sozialis tischer Bewegungen – die Kontrolle über die postkolonialen Länder und verordneten ihren Staatsbürgern eine ganz neue Form des Patriotismus. Dazu gehörten meist Flaggen, Hymnen, Militärparaden und ein großes Foto des Staatschefs in jedem Raum. Mit dazu gehörte auch die gewaltsame

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